Mord im Olympischen Dorf

Im achten Rath-Roman „Olympia“ muss Volker Kutschers Held einen schweren Entschluss fassen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Olympia heißt die taffe Frau des nordamerikanischen Sportfunktionärs Walter Morgan mit Vornamen. Der ist mit einer Kette von Konservenfabriken zu Wohlstand gekommen. An einer sich in den USA gut verkaufenden Würzsauce, dem neuesten Produkt aus seinem Hause, ist ihm besonders gelegen. „Olympia Special Sauce“ hat er die Tunke liebevoll nach seiner Angetrauten benannt. Und natürlich hat er ein Glas davon auch in Berlin am 25. Juli 1936 dabei, sieben Tage vor Eröffnung der XI. Olympischen Sommerspiele. Den sportlichen Höhepunkt des Jahres erlebt Morgan allerdings nicht mehr. Und seine Lieblingssauce ist nicht ganz unschuldig am plötzlichen Tod des Sportfunktionärs, den seine Frau, die es sich zur Gewohnheit gemacht hat, alle Welt in „Schwimmer“ und „Nichtschwimmer“ einzuteilen, trotz seiner früheren sportlichen Erfolge im Wasser leicht verächtlich zu den „Nichtschwimmern“ zählt.

Mit Walter Morgans Tod beginnt der achte Gereon-Rath-Roman von Volker Kutscher. Mitten im Olympischen Dorf und vor den Augen von Raths ehemaligem Ziehsohn Friedrich Thormann rafft es den korpulenten Amerikaner dahin. Fritze, wie man den inzwischen 15-Jährigen nennt, der im Vorgängerband Marlow (2018) die Raths verlassen musste, weil die als politisch unzuverlässig galten, und inzwischen im Haus des SA-Funktionärs Rademann zu einem „ordentlichen Deutschen“ erzogen werden soll, gehört zum Jugendehrendienst. Der rekrutiert sich aus Angehörigen der Hitlerjugend, die den Sportlern aus 49 Nationen als Servicekräfte während der Spiele zur Verfügung stehen. Mit einem Auftrag des US-Hochspringers David Albritton, eines Freundes des Leichtathletik-Stars Jesse Owens, ist er gerade im zentralen Speisehaus des Dorfes unterwegs, als Walter Morgan an seinem Tisch zusammenbricht.

Natürlich wittern die, die aus den Olympischen Spiele eine Werbeveranstaltung für das faschistische Deutschland machen wollen, sofort eine internationale Verschwörung. Man hat viel getan, um das äußere Bild des NS-Staats mittels des Sports aufzupolieren, alles Provokante für die Wochen der Wettkämpfe aus der Öffentlichkeit verbannt – nun soll auch keine Sabotageaktion von Gegnern des Regimes den propagandistischen Coup mehr gefährden. Also wird der erfolgreiche, wenn auch ob seiner staatspolitischen Haltung umstrittene Kriminaloberkommissar Rath als inoffizieller Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS der Kriminalwache Elstal zugeteilt, um verdeckt im Mordfall Morgan zu ermitteln.

Auch hinter dem achten Abenteuer Gereon Raths steckt wieder eine intensive Recherchearbeit seines Erfinders Volker Kutscher. Wenn Rath gemeinsam mit seiner Frau Charly, der „sturste[n] Frau des Universums“, die Eröffnungsfeier der Spiele besucht, schaut der Leser durch dessen Augen ins Oval des Stadions und auf Tausende von Menschen, die in der „von sich selbst besoffene[n]“ Atmosphäre willen- und kritiklos ihrem „Führer“ und seiner Entourage zujubeln, als wäre man jetzt schon auf dem Weg in den großen Krieg. Kein Wunder, dass Charly, die ihre beruflichen Träume inzwischen begraben musste und gemeinsam mit einem ehemaligen Kollegen Raths verfolgten Juden zur Flucht aus Deutschland verhilft, den nationalistischen Taumel nicht lange aushält. Überhaupt hat sie sich vorgenommen, den Spielen möglichst fern zu bleiben, und ist deshalb aus der gemeinsamen Wohnung aus- und wieder bei ihrer Freundin Greta Overbeck eingezogen. An ihrer Stelle muss Gereon nun drei amerikanische Olympia-Touristen ertragen und seine täglich zunehmenden beruflichen Probleme mehr schlecht als recht mit sich selbst ausmachen.

Denn natürlich kann von einer kommunistischen Verschwörung, die es darauf abgesehen hat, den Ruf des Regimes in der Welt heimtückisch zu untergraben, nicht die Rede sein. Dass doch bald ein Verdächtiger in Person des ehemaligen Kommunisten Heinrich Ehlers, der inzwischen zum strammen Nazi mutiert ist und als Steward im Speisesaal der Amerikaner bedient, zur Hand ist, bringt Rath schnell wieder in Konflikte mit seinen Vorgesetzten bei der SS. Denn die, mit denen Kutschers Held einst bei der Berliner Kriminalpolizei eng zusammenarbeitete und die inzwischen in der NS-Hierarchie weit über dem Mann stehen, der mit dem ganzen System nichts zu tun haben will, brauchen Erfolge und schicken Ehlers gegen Raths Protest in jene Häftlingskolonnen, die gerade das Konzentrationslager Sachsenhausen errichten. Wie die Geschichte des unschuldigen Mannes, für dessen Freiheit sich auch Charly und ihre Freundin Greta einsetzen, endet, gehört mit zu den stärksten Einfällen in Kutschers umfangreichen Roman.   

Der beantwortet die Fragen, wer Walter Morgan wie und warum getötet hat, letzten Endes akkurat. Allerdings tritt der Fall um den nordamerikanischen Olympiafunktionär gegenüber anderen Handlungssträngen mehr und mehr in den Hintergrund. Denn nur allzu bald meldet sich Raths Vergangenheit mit Macht zurück. Er begegnet alten Bekannten wie der Ex-Nachtklubtänzerin Marion Bosetzky und dem in die USA ausgewanderten Gangster Abraham Goldstein – inzwischen ein Paar, das den Olympiatrubel nutzt, um im Verborgenen seinen eigenen schmutzigen Geschäften nachzugehen. Und hinter einer dubiosen Serie von tödlichen Unfällen, denen allesamt ehemalige Wehrmachtsangehörige zum Opfer fallen, vermutet Kutschers Held gar jenen Mann, mit dem er seit Jahren auf Gedeih und Verderb verbunden scheint: Johann Marlow, Berlins ehemaliger Gangsterkönig, der noch eine Rechnung offen hat mit all jenen, die ihn im Vorgängerband in eine Falle lockten und schließlich aus Deutschland vertrieben.

Es gelingt Volker Kutscher in Olympia beeindruckend, die für viele Menschen immer bedrohlicher werdende Stimmung in einem Deutschland einzufangen, das sich für einen Monat im Sommer 1936 das Mäntelchen der Weltoffenheit und Völkerverständigung umgehängt hat. Doch es ist nicht der Rausch der Goldenen Zwanziger aus den ersten Bänden der Rath-Reihe – die übrigens gerade fürs Fernsehen verfilmt werden –, mit dem es die Leser in diesem Roman zu tun bekommen. Hier begegnen sie einem bis ins Letzte durchchoreographierten und von Leni Riefenstahl – die in einer Szene des Romans den Jugendehrendienstler Fritz Thormann barsch von ihrem Filmset verscheucht – in suggestive Bilder gesetzten Massenspektakel, das von all den dunklen Dingen ablenken soll, die sich hinter den bunten Kulissen immer deutlicher abzeichnen. Dass weder Gereon Rath noch Charly in diesem Land ihre Zukunft zu sehen vermögen, wundert nicht. Allerdings fragt man sich nach dem Ende von Olympia, wie es weitergehen soll mit Kutschers Helden in den noch geplanten zwei Bänden der Reihe.

Titelbild

Volker Kutscher: Olympia. Der achte Rath-Roman.
Piper Verlag, München 2020.
556 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492070591

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