Der Gegenwart

 

Der Prozess des Lebens ist eingebettet in ein Kontinuum, das, nach derzeitiger Lehrmeinung der Wissenschaft, seinen Anfang in der kosmischen Inflation der Singularität, dem Urknall, nahm und in diesem einzigartigen Ereignis aus einem Punkt Raum und Zeit konstituierte. Bei der physikalischen Zeit handelt es sich nach allem, was wir wissen, demnach um ein lineares, gerichtetes, irreversibles Momentum, das de facto nur reine Dauer, aber keine Etappen kennt, die durch einen bezeichneten Anfang sowie ein bezeichnetes Ende definiert sind. Was so theoretisch klingt, hat praktisch dramatische Auswirkungen. Denn wenn wir bei dem Kontinuum, das wir als ‚physikalische Zeit‘ kennen, von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit reden, so nutzen wir, ohne dass es den meisten bewusst ist, drei Begriffe, die drei verschiedenen Begriffstypen zuzuordnen sind: Die ‚Zukunft‘ als das, was kommen wird, ist, auch wenn sie bislang immer eingetreten ist, reine Spekulation (das Problem ist bekannt als ‚Humes Induktionsproblem‘) – wer weiß, ob nicht schon morgen ein kosmisches Ereignis ähnlichen Ausmaßes wie das des Urknalls dem ganzen Spuk ein Ende bereiten wird? Die ‚Gegenwart‘ ist in diesem steten Fluss reiner Dauer lediglich als ein von den verschiedenen Sprechern natürlicher Sprache ad hoc  definierter Zeitraum, als eine willkürlich begrenzte Etappe, als episodales Ereignis gegeben – tatsächlich rauscht aber die Zukunft ungebremst durch sie hindurch in die Vergangenheit (der Großteil des Hier und Jetzt, das wir Gegenwart nennen, liegt übrigens bereits in der Vergangenheit). Die ‚Vergangenheit‘ ist demnach die einzige Größe, die für uns fassbar ist. Da aber die Zeit, soweit wir wissen, irreversibel ist, entzieht sich ausgerechnet diese einzig fassbare Größe unserer Erfassbarkeit: Wir können keine verifizierbaren Aussagen über sie machen, alles muss prinzipiell Hypothese bleiben. So bleibt festzuhalten: Die Zukunft ist ungewiss, die Gegenwart eine Chimäre, die Vergangenheit nicht erfassbar. Nur kollidiert unser subjektives Zeitempfinden, das uns Zeit stets als gegenwärtige Zeit erleben lässt, mit jener linearen Zeit, unter deren Diktat wir heute leben. Und die eben das nicht kennt, worin wir leben: Gegenwart.

 

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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2020

Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend. Daher verleihen wir Stefan Oehm den KUNO-Essaypreis 2018.