Macht und Willkür

Ursula Schulz-Dornburg hat im „Indienarchiv“ in Sevilla „Zeugnisse der Kolonialgeschichte“ fotografiert, Martin Zimmermann erläutert die koloniale „Teilung der Welt“

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus einer „unverhofften Begegnung“, wie der Althistoriker Martin Zimmermann im Prolog erläutert, entstand eine enge Freundschaft mit der Fotografin Ursula Schulz-Dornburg, entstand Jahre später dieses Buch. Eine Fotoausstellung in Oaxaca/ Mexiko war Initialzündung für die Künstlerin, sich mit der Frage der Kolonialgeschichte der Neuen Welt zu beschäftigte. Sie wollte wissen, wie alles begann. 

Diese 300 Jahre währende Geschichte Lateinamerikas mit ihren beiden Zweigen, dem hispanoamerikanischen und dem brasilianischen, lässt sich genau datieren. Im Vertrag von Tordesillas von 1494, den die Könige von Spanien und Portugal mit dem in Spanien geborenen Papst Alexander VI. nach langen Diskussionen aushandelten, zeichnete man eine arbiträre Demarkationslinie vom Nord- zum Südpol – 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln. Die östlich davon gelegenen Gebiete wurden Portugal zuerkannt, die westlichen Spanien. Damit begann die vertragliche Teilung der Neuen Welt. Die auf Pergament handschriftlich aufgezeichneten Urkunden liegen im Archivo General de Indias in Sevilla und im Arquivo Nacional da Torre do Tombo in Lissabon.

Diese Hybris der Herrschenden, sich Gebiete rücksichtslos einzuverleiben, Grenzen willkürlich festzulegen, sie quasi mit dem Lineal zu ziehen, ohne die Bewohner, Stämme oder Völker zu befragen und so neue, oft künstliche Staaten zu schaffen, sollte sich im Verlauf der nächsten Jahrhunderte mehrfach wiederholen: Nach ähnlichen Prinzipien teilten die Europäer Afrika, den Orient und Asien in den nächsten Jahrhunderten unter sich auf, je nach Dominanz der beteiligten Großmächte. 

2001 kam Schulz-Dornburg nach Sevilla, um das Archivo de Indias zu besichtigen. Das Gebäude und der Inhalt – rund neunzig Millionen Dokumente, darunter 8000 Karten – sind beeindruckend, ja überwältigend. Sie fotografierte – und nun sind 22 dieser großartigen schwarz/weiß Bilder im vorliegenden Buch abgedruckt. Man sieht prachtvolle, gemusterte Marmorböden, Kassettendecken, lichtdurchflutete Räume, die Wände voller Mahagoniregale, in der Mitte weitere stilvolle Schränke. Hier stehen die zahllosen Kartons voller Dokumente: Reihenweise Kuba, Santo Domingo, Mexiko, Lima, Buenos Aires – und alle sind säuberlich durchnummeriert. Eine unfassbare Masse, die den bürokratischen Anweisungen und der Papierwut Philipp II. und seiner Nachfolger geschuldet ist.

Zwanzig Jahre später muss man dafür mehr als dankbar sein, denn inzwischen wurden die Archivkartons leergeräumt, die Inhalte digitalisiert und stehen jetzt geschützt in klimatisierten Räumen. Das alte Gebäude wurde bis 2004 umgebaut, Schränke aus Stahl ersetzen die aus Mahagoni, digital ausgerüstete Säle im Erdgeschoss stehen für die Forscher zur Verfügung, die die Akten bestellen – sie werden dann durch einen unterirdischen Tunnel von der anderen Seite der Calle Santo Tomás herbeigeschafft. Die Erforschung dieser kaum vorstellbaren Menge von wertvollen Unterlagen aus der Kolonialzeit Spaniens wird Historiker vermutlich noch lange beschäftigen. Das ehrwürdige Gebäude hingegen wird inzwischen von Touristen besucht, in den alten Schränken der Prachtsäle stehen nur noch Kopien und Attrappen. 

Ausgehend von den Fotos nimmt uns Martin Zimmermann mit auf eine assoziative Zeitreise durch verschiedene Kulturen und Kontinente, denn Autor und Fotografien haben ein ausgeprägtes Interesse an den „schriftlichen und materiellen Spuren, die Menschen auf der Welt hinterlassen haben“. Die fortschreitende Kartographierung der Welt ging Hand in Hand mit der Überheblichkeit, sie zu beherrschen und die vorhandenen Reichtümer für die jeweilige Heimat zu plündern – auch wenn dazu die Christianisierung der Indigenen in der Neuen Welt oder evangelikale Missionierungen in anderen Ländern als Vorwand dienen mussten. 

Für die in der Heimat stets hungrigen spanischen Eroberer aus der Extramadura wurde Mexiko mit seiner Überfülle an Lebensmitteln zu einem Schlaraffenland, hinzu kamen die riesigen Gold- und Silberschätze. Ähnliches gilt für das Inkareich, wo ein gängiges Sprichwort lautet: „Esto es Jauja“ oder „Es un Potoisí‘. Der Name der Städte wurde zum Synonym für unerschöpflichen Reichtum.  

Zimmermann beschreibt detailliert das Archivo de Indias von Sevilla als Monument der Macht und des historischen Rückblicks. Dann weitet er die Untersuchung aus, führt den Leser nach Babylon im 7./6. Jahrhundert v. Chr., nach Griechenland, verweist auf den antiken Geografen Strabon und den Universalgelehrten Plinius oder erzählt von Marco Polo und den Reisenden, die die Neue Welt erkundeten. Die Fantasie der Europäer wurde beflügelt von den Erzählungen über Monster, Amazonen, Kannibalen oder der Vorstellung vom Jungbrunnen, El Dorado und dem Garten Eden. Was über Jahrhunderte zusammengetragen wurde, prägt unsere imaginären Welten bis heute. 

Das Archiv in Sevilla enthält zahllose Listen mit den importierten Waren und den Gold- und Silberlieferungen. So begann das „Goldene Zeitalter“ für Spanien, wörtlich und im übertragenen Sinn, da es auch zu einer Blüte von Literatur und Malerei führte. Zuvor hatte es bereits starke Veränderungen in der Welt des Mittelmeeres gegeben, nachdem das Römische Reich in ein West- und ein Ostreich zerfallen war, die Religionen sich blutig bekriegten und das Papsttum auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Die Könige der iberischen Halbinsel wetteiferten darum, wer z. B. Papst Leo X. die schönsten Geschenke offerierte: So versicherte man sich der gegenseitigen Wertschätzung und erwartete natürlich Vergünstigungen bei der Zuteilung der neu eroberten Gebiete in Asien. König Manuel schickte dem tierliebenden Papst Leoparden, einen Gepard, ein persisches Pferd, Papageien und einen vierjährigen weißen Elefanten aus Indien, der sogar Kunststücke vorführen konnte – so verlief Bestechung damals. Leo X. war begeistert. Einige Bullen zeugen von seiner Bereitschaft, den Portugiesen als Gegenleistung begehrte Gebiete östlich einer weiteren Demarkationslinien in Asien zuzuteilen – gezogen nach dem Präzedenzfall des Vertrags von Tordesillas, den Zimmermann erläutert und auf die weitreichenden machtpolitischen Implikationen hinweist. 

Der Autor erinnert den Leser damit an die Vermessenheit der Europäer, die sich als legitime Herren über die ganze Welt fühlten – schließlich hatten sie ja den päpstlichen Segen und zertifizierte Urkunden erhalten. Dies hat letztlich, nach Ende der Kolonialzeit, auch zur Hybris des aktuellen Eurozentrismus geführt. Der Historiker ist davon überzeugt, dass man die Teilung der Neuen Welt von 1494 nicht vergessen darf, denn an ihr lassen sich die unheilvollen Folgen dieser Willkür paradigmatisch aufzeigen. Dieses schöne Buch ist eine Einladung, darüber nachzudenken.

Titelbild

Ursula Schulz-Dornburg / Martin Zimmermann: Die Teilung der Welt. Zeugnisse der Kolonialgeschichte.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
160 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783803136978

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