Ein Mann und sein Sohn brechen auf zum Spielwarengeschäft in der Siedlung. Dort wollen sie für den Bruder des Jungen ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Es ist das Jahr 1960, so erfahren wir es vom Icherzähler, dem mittlerweile erwachsenen Jungen. Der Vater hat in Norddeutschland den Beruf des Melkers erlernt und ist dann mit der Familie ins Ruhrgebiet gezogen, weil er dort Arbeit als Bergmann gefunden hat. Sie ziehen also los, Vater und Sohn, nehmen eine Abkürzung über den leeren Schulhof, es sind Sommerferien. Dort tritt ihnen plötzlich ein Mann in den Weg, barfuß, im Morgenmantel, mit wirren Haaren. Der Vater spricht ihn an, da zieht der Mann eine Pistole und drückt dem Vater den Lauf der Waffe auf die Jacke. "Ja, und jetzt?", fragt der mit leiser Stimme. Die Sekunden dehnen sich ins Endlose.

Und dann lächelt der Vater den Fremden an: "Es war dieses überraschende, in meiner Kindheit kein dutzend Mal erlebte, aus der grauen Aura seiner Melancholie hervorstrahlende Lächeln, in dem ich zu lesen meinte, dass es nicht nur Arbeit und Enge in unserem Leben gab, die sorgenvolle Alltäglichkeit, sondern auch ein tief verschüttetes Glücksvorkommen." Irgendwann steckt der Mann die Pistole in die Tasche, dreht sich um und verschwindet. Vom Spielzeugladen aus telefoniert der Vater mit der Polizei. Ja, sagt er, die Pistole sei geladen und entsichert gewesen und der Mann habe kurz zuvor noch damit geschossen, sagt der Vater, die Rußspuren seien noch an seiner Jacke. Eine Sauer 38. Woher er das wisse? "Ich war Soldat, hatte dieselbe." Dann lassen sie sich von der Verkäuferin den Bauernhof zeigen.

Geronimo heißt die Erzählung, und so grob das beschriebene Milieu oberflächlich auch erscheinen mag, so vielschichtig sind die Bezugsebenen, die Ralf Rothmann der Geschichte unterlegt hat. Angst ist ein entscheidendes Element in fast allen der elf Erzählungen. Und zumeist gestattet Rothmann seinen Figuren keinen Ausweg, es sei denn in den Tod. In Geronimo beispielsweise wird die Biografie des Vaters (die, wie Rothmann-Leser aus früheren Romanen wissen, der von Rothmanns Vater gleicht) und das bildungsferne Milieu, in dem der Autor selbst auch aufgewachsen ist, eng geführt mit der mentalen Prägung der Kriegsgeneration.

Die Schweigsamkeit dieser Männer, die sich unter Tage den Buckel krumm schuften und am Abend die Lunge endgültig kaputtrauchen, die Unerschrockenheit in einer lebensbedrohlichen Situation, die Ruhrgebietsatmosphäre der Sechziger- und Siebzigerjahre – all das kondensiert sich bei Rothmann seit seinem 1991 Debütroman Stier in einem jederzeit wieder erkennbaren Sound, der poetisch aufgeladen, aber nicht von Bildern überfrachtet ist. Es ist die Mischung aus authentischem Jargon und der in der nachgeholten Reflexion ausgebildeten Sprache des Schriftstellers, aus der Rothmanns Prosa ihre Energie schöpft.

Rothmann, 1953 in Schleswig geboren, im Ruhrgebiet aufgewachsen, wo er eine Maurerlehre absolvierte, bevor er nach Berlin ging und zu schreiben begann, ist ein Autor, der mit dem Satz zitiert wird, dass ihn ein intellektueller Ansatz von Literatur nicht interessiere. Das ist mehr als bloße Koketterie, und dennoch sind seine Bücher nicht im Geringsten antiintellektuell. Den Büchnerpreis bekommt man mit einer solchen Biografie selbstverständlich nicht. Die Intelligenz von Rothmanns Schreiben zeigt sich in der Art und Weise, wie er seine Figuren beobachtet, wie er Menschen anschaut und sich in sie einfühlt, ohne über sie zu urteilen.

Einfühlsam, aber nie sentimental

Hotel der Schlaflosen ist ein dunkles und ein virtuoses Buch. Das gilt nicht nur für die Titelgeschichte, in der Rothmann sich in den Kopf des sowjetischen Geheimdienstoffiziers Blochin hineinbegibt; eines Mannes, dessen Spezialität der perfekte Genickschuss ist und der im Jahr 1940 in einem Moskauer Keller dem von den Spuren der Folter gezeichneten Schriftsteller Isaak Babel gegenübersitzt. Auch ihn wird Blochin töten, wie so viele andere. Das Gespräch, das die beiden zuvor noch führen, ist dominiert von Blochins ungebrochenem Zynismus, der in einer in ihrer Unmenschlichkeit geradezu unfassbaren Schlusspointe gipfelt.

Überhaupt sind alle elf Erzählungen dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen Ungeheuerlichkeiten inszeniert werden, und dass Rothmann davon mit der gleichen Selbstverständlichkeit erzählt wie vom Öffnen einer Flasche Pils auf der Baustelle nach Feierabend. Nicht alle Erzählungen, das ist eine Binsenweisheit, sind von gleicher Qualität. Die besseren Texte in Hotel der Schlaflosen sind herausragend; die etwas schwächeren noch immer sehr gut. Das, was Rothmann hier macht, kann unter den deutschsprachigen Schriftstellern wirklich nur er. Exemplarisch für seine Fähigkeit, ohne zu viel zu verraten, sei die Erzählung Der dicke Schmidt genannt. Das Porträt eines cholerischen Vorarbeiters auf einer Baustelle, aufgeschrieben von einem Milieuwechsler, der seine letzten Tage als Maurer verbringt, bevor er in ein neues Leben nach Berlin aufbricht, ist so tieftraurig in der Darstellung von untergründiger Verzweiflung, ohne dass diese explizit benannt werden müsste, kurz gesagt: so wahr, so einfühlsam, aber niemals sentimental.

Im Literarischen Quartett im Dezember 1991, noch heute auf YouTube anzuschauen, wurde Rothmanns Debütroman Stier besprochen. Marcel Reich-Ranicki urteilte seinerzeit, Rothmann sei ein Lyriker, der mit der Gattung der Prosa Schwierigkeiten bekommen werde, und Sigrid Löffler wagte die Prognose, dass nach dem autobiografisch getönten Debüt von diesem Autor nicht mehr allzu viel zu erwarten sei. Beide haben sich glücklicherweise geirrt. Acht Romane und vier Erzählungsbände später ist Ralf Rothmann in Hotel der Schlaflosen auf der Höhe seiner Möglichkeiten. Und so variabel wie lange nicht mehr.

Ralf Rothmann: "Hotel der Schlaflosen. Erzählungen". Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 206 Seiten, 22,- Euro