Es beginnt mit einer dieser Sommerszenen, die der Schreckenstraum sämtlicher Eltern sind. Noch sind die Kinder da, stehen neugierig am Pazifischen Ozean. "Geh nicht weiter rein", sagt Aljona zur anstrengenden jüngeren Schwester Sofija. Der Pferdeschwanz schwingt. Die Mückenstiche an den Waden: aufgekratzt. Die große Aljona erzählt der kleinen Sofija davon, wie dort hinten einst ein großes Stück Land abgerissen wurde: Zuerst kam das Erdbeben, dann der Tsunami, dann war Sawojko fort, 50 Holzhäuser, ein Markt, eine Apotheke, ein Postamt.

Die Erde kann nämlich verschwinden, das lernt die Kleine von der Großen.

Dann verschwinden die beiden Mädchen. Und langsam, viel zu spät, beginnt die Suche, nach den lebenden Kindern in der Stadt und auf den Spielplätzen und bald nach den Leichen im Meer und in den Wäldern.

Ein Mann war in der Nähe der beiden, eine Zeugin war dort auch, doch was genau hat sie gesehen? Ein Auto. Schwarz war es, nicht wahr? Was außerdem? Gestern wusste die Zeugin es noch, aber gestern ist lange her; und dass alles nun von ihr abhängen soll, das Leben der Mädchen und das Seelenheil von deren Mutter und der letzte Rest von Solidarität auf dieser vergessenen, so ausgezehrten russischen Halbinsel Kamtschatka, all das vermischt und verwirbelt die Bilder im Hirn der Zeugin Oksana.

Das Verschwinden der Erde (im amerikanischen Original Disappearing Earth) ist ein wunderreiches Debüt, eines jener Bücher nämlich, die über viele Jahre wuchsen und so sorgsam erdacht, konzipiert, recherchiert, strukturiert, aufgeschrieben und redigiert worden sind, dass sie ganz prall und dicht werden konnten – und doch lesen diese Bücher sich leicht, von Wort zu Wort gleitend, denn die Kraft der Geschichte trägt uns von Seite zu Seite, und ihre Sätze schwingen und klingen.

Die New Yorkerin Julia Phillips, 31, hat zehn Jahre lang an Disappearing Earth gearbeitet, ein Fulbright-Stipendium finanzierte das Projekt. Im Zeitalter ständiger Ablenkungen und Richtungswechsel ist solche Intensität und Dauer ungewöhnlich geworden, aber Phillips ist, das sagen Amerikas Kritiker, das sagt ihr Verlag, und sie sagt dies heute auch, eine willensstarke Frau. Sie findet diesen Satz dafür: "Ich habe diese Qualität, ich entscheide mich für ein Projekt, und von da an fehlt mir die Vorstellungskraft, irgendetwas anderes tun zu können."

Sieben Jahre lang hatte sie zuvor an einem anderen Manuskript gesessen, einem laut Phillips durchaus spätpubertären Frühwerk. Kein Agent wollte jenes Buch vertreten, kein Verlag bekam es zu Gesicht, doch sieben verdammt lange Jahre blieb sie dabei. "Ich hätte wohl etwas früher aufgeben sollen", sagt sie. Mehrfach fällt das Wort "besessen", zum Beispiel: "Ich bin besessen von der Frage, wie Gemeinschaften sich selbst stärken oder sich selbst verletzen können."

Das Verschwinden der Erde nun, erzählt Phillips, habe nicht mit einer inhaltlichen Idee begonnen, sondern mit einem Land: Russland, und mit der Sehnsucht nach Reisen, auch nach einer Sprache, Russisch. Sie recherchierte, stieß auf Kamtschatka, jene vulkanische Halbinsel, die einst Heimat sowjetischer Spione war, für westliche Reisende Terra incognita, und damit hatte sie einen Ort, doch noch keine Geschichte.

Und dann reiste sie hin, war weiter als je zuvor von zu Hause entfernt, eine junge Amerikanerin in Kamtschatka, "und ich hatte mich nie zuvor so verwundbar gefühlt. Kein Mensch wusste, wo ich war, es gab kein Netz." Nach und nach, weil sie noch nie solche Einsamkeit gespürt hatte, entstand die Geschichte vom Verschwinden zweier Mädchen und jene vom Verschwinden der Erde.