Roberto Bolaño und kein Ende: Viele Jahre nach seinem Tod trumpft der grosse chilenische Autor mit teilweise perfekten Jugenderzählungen aus dem Nachlass auf

Ein neuer Band handelt vom Pinochet-Putsch 1973: einem Schlüsselmoment von Roberto Bolaños legendenumwobenem Leben.

Andreas Breitenstein
Drucken

Zu den Standards literarischer Nekrologe gehört die Phrase, dass die Imaginationskraft eines Schriftstellers über seinen Tod hinaus Wirkung zeitigen werde. Was im Grunde kaum mehr als eine hermeneutische Selbstverständlichkeit ist, entpuppt sich bei dem Chilenen Roberto Bolaño (1953–2003) als Performance ohne Ende. Immer wenn aus dem unerschöpflichen Brunnen seines Nachlasses ein neuer Band mit Erzählprosa erscheint, kann die weltweite Bolaño-Gemeinde entzückt verfolgen, wie ein vor langer Zeit Gegangener sich neu erfindet.

Verblüffend ist, wie «ganz» Roberto Bolaño in seinen frühen Skizzen, Versuchen und Fragmenten schon da war.

Verblüffend ist, wie «ganz» Roberto Bolaño in seinen frühen Skizzen, Versuchen und Fragmenten schon da war.

B. Cannarsa / Laif

Schon immer hatte Bolaño es darauf angelegt, die Wirren und Wenden seines Lebens in einem Kaleidoskop von Dichtung und Wahrheit zu ver(un)klären. Im jüngsten Nachlassband – formidabel übersetzt von Christian Hansen und Luis Ruby – ist diese Selbstmythologisierung besonders spannend, wirft sie doch ein Licht auf die opake Frühgeschichte des Autors: den Putsch des chilenischen Militärs gegen die Präsidentschaft Salvador Allendes vom 11. September 1973. Bolaño, dies gilt als gesichert, überstand einen Tag Folterkeller nur mit Glück, weswegen man ihm auch die Rolle eines Sympathisanten von Allendes sozialistischem Experiment zuschreibt.

Schönheit und Schrecken

Ganz so einfach links wird den Autor allerdings nicht verorten wollen, wer die beiden aus den frühen neunziger Jahren stammenden fragmentarischen Erzählungen «Cowboygräber» und «Vaterland» – zu denen sich das kurz vor dem Tod vollendete Stück «Komödie vom Schrecken in Frankreich» gesellt – liest. Dass es sich um Texte nahe der eigenen Sache handelt, zeigt der Name des aus dem Monumentalroman «Die wilden Detektive» (1998) bekannten Ich-Erzählers und Alter Egos: Arturo Belano. Einmal mehr geht es um das, was Bolaño zwischen Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung am meisten beschäftigte: die alle und alles umwertende Subversion der Literatur und die exaltierte Existenzform des Dichters.

Dämonisch und zugleich urkomisch kommt die Erzählung «Komödie vom Schrecken in Frankreich» daher, in der davon berichtet wird, wie der 17-jährige Ich-Erzähler Diodoro Pilon als Teil der ebenso verschworenen wie verschwatzten Dichterbruderschaft der «Freunde von Roger Bolamba» in einem Strandcafé in Französisch-Guayana eine Sonnenfinsternis erlebt, die für einen geheimnisvollen Herrn in Begleitung zweier Damen zum Wendepunkt des Lebens wird. Denn dieser kann nicht umhin, mit den beiden zum atavistischen Himmelsspektakel ekstatisch das Alphabet von Chacona, Resbalosa, Galladea und Sombrilla zu tanzen und dabei ungeschützten Auges in «die schwarze Sonne» zu blicken. Wie so oft bei Bolaño fehlt es nicht an Suspense, und es verschmelzen Schönheit und Schrecken, Erleuchtung und Irrsinn, Ekstase und Gewalt. Dabei liegt es nahe, die «schwarze Sonne» auch politisch zu begreifen – als Allegorie auf den Faschismus, der auf den chilenischen «11. September» folgte.

Auf Grauen folgen Heiterkeit und Absurdität – mit einer Wendung, in der Bolaño dem Surrealismus seine Reverenz erweist und diesen zugleich veräppelt. Als Diodoro über einen Hügel geht, klingelt es irgendwo am Wegrand in einer Telefonzelle. Und ja, genau er ist gemeint. Denn auf der anderen Seite meldet sich aus Paris ein hoher Repräsentant der «Surrealistischen Untergrundliga» (SUG), der den exaltierten Jüngling gravitätisch ins Bild setzt über die Geheimorganisation – die gegründet wurde, um das seit dem Tod Bretons verluderte Erbe der Bewegung zu bewahren, und die heute heimlich von den Witwen der Visionäre der ersten Stunde finanziert wird.

Denn der «offizielle Surrealismus» ist nicht mehr, was er einmal war. Er «ist ein verdammter Sauhaufen, ich könnte Ihnen da Sachen erzählen», so der Anrufer. Am liebsten sähe er die «unfassbaren Nichtsnutze (. . .) allesamt [aufgehängt], an den Strassenlaternen der Champs-Elysées». Revolutionär befreiende Sinnlosigkeit könne es einzig noch im Verborgenen, sprich in der Kanalisation, geben, weshalb auch leider niemand über die SUG etwas wissen könne und dürfe, was leider zu einem Rekrutierungsproblem führe. Nur fünf Getreue gibt es noch, die den Geist der Kanalisation und die «Kanalisation des Geistes» als Realität wie als Metapher hochhalten.

Natürlich wäre Diodoro, der Literatur der Zukunft verschworen, gern dabei. Wenn da nur nicht das Problem wäre, wie er denn die Reise ins ferne Paris berappen soll. Ein Hindernis von durchdringender Banalität, das die Herren aus Paris weder bedacht haben noch lösen können – denn Geld oder ein Ticket zu schicken, geht aus Gründen der Geheimhaltung nicht. So dass der Spuk verschwindet, wie er aufgetaucht ist: wenn das nicht Surrealismus in Vollendung ist.

Traumtänzereien

Im Umfeld von «Die wilden Detektive» angesiedelt sind die vier Stücke von «Cowboygräbern», die Fragment geblieben sind. In «Der Flughafen» erleben wir, wie der 15-jährige Arturo 1968 sich dem Abenteuer stellt, mit Mutter und Schwester zum Vater nach Mexiko zu fliegen, und erst einmal scheitert. Über Lautsprecher wird der Name der Mutter ausgerufen, und als die Polizei auftaucht, ahnt man schon das Schlimmste. Die Verhältnisse sind verworren, die Familie ist ein hybrides chilenisch-mexikanisches Gewächs und der Vater lediglich in Form hochtrabender Versprechungen und seitenlanger wirrer, von Fehlern strotzender Briefe in krakeliger Schrift präsent.

Erscheint der Vater als «Hallodri», ist die Mutter der «Inbegriff [einer] Traumtänzerin», die sich in sentimentaler Buchlektüre auslebt. Unter den Büchern aus dem Versandhandel finden sich seltsamerweise Nicanor Parras «Gedichte und Antigedichte» – für Arturo das erwünschte Antidot gegen die zwanzig Liebesgedichte von Neruda, welche die Mutter unablässig rezitiert. Und die modernistische Poesie verspricht pubertären Distinktionsgewinn: «Ich las Nicanor Parra und glaubte, das würde mir einen Vorteil verschaffen, aber es verschaffte mir überhaupt keinen Vorteil» – etwa bei der ebenso klugen wie schönen Mónica Vargas, die Arturo mit dem Geschenk von Rilkes «Briefen an einen jungen Dichter» («ihrer Art, zu sagen, ich solle die Finger von der Lyrik lassen») dermassen vor den Kopf stösst, dass er sein Vorhaben, mit ihr zu schlafen, aus den Augen verliert. Ein Abschiedsbesuch beim grossen Parra in ländlicher Vorstadt geht ins Leere und wird zur Expedition ins literarische Hinterwäldlertum.

Meisterlich beherrscht schon der junge Bolaño die Kunst, in leichtem Duktus und klarer Sprache rhizomartig Rätsel sich ausbreiten zu lassen. Über der literarischen Apotheose des Überbaus der Welt geht nie vergessen, dass im Untergrund Gewalt lauert. In «Der Wurm» wird aus einem vor Arturos Lieblingsbuchhandlung in Mexiko-Stadt herumhängenden Penner (mit einer Waffe und Taschen voller Geld) ein Verschworener in Sachen absurder poetischer Existenz. «Die Reise» erzählt von der turbulenten Schiffspassage des Revolutionsenthusiasten Arturo von Panama nach Valparaíso, auf der ihm die Stripteasetänzerin Dora Montes den Kopf verdreht und mehr, ohne dass sie gleichzeitig seinen Kabinengenossen Johnny Parades verschmähen würde. Um Politik geht es bei den Tischgesprächen an Bord und sowieso um Literatur, was Arturo Gelegenheit gibt, einem Jesuiten seine Erzählung über eine Invasion der USA durch ameisenähnliche Ausserirdische zum Lesen zu geben – eine umwerfende Persiflage auf das einschlägige Science-Fiction-Genre.

Arbeit am Himmel

«Der Putsch» endlich stösst ins Herz der Ereignisse des 11. Septembers vor, doch statt Betroffenheit zu markieren, macht sich Bolaño über das grotesk wichtigtuerische klandestine Gebaren der kommunistischen Zelle lustig, der Arturo zugeteilt ist. Der Militärputsch ist die schlimmstmögliche Wende: «Wir wussten, einige mehr, andere weniger, wie gründlich alles aus war.» Und doch darf die Romantik der Passwörter nicht fehlen. Arturo fasst den Auftrag, auf der Strasse in der Nähe seiner Wohnung «Ultrarechte» auszumachen, so auffällig unauffällig, dass es keinesfalls verborgen bleiben kann – nur dass keine Menschenseele auftaucht und die «Arbeit» des Umsturzes derweil vom Feind am Himmel über Santiago getan wird: «tadellos» in Form von Flugzeugen, «die ich von Zeit zu Zeit wie im Traum von Wolke zu Wolke vorbeifliegen sah».

In «Vaterland», einer Schutthalde von Fragmenten, geht es dann ans Eingemachte. Mit einem Boxchampion-Vater, dem «das Gesetz am Arsch vorbeigeht», scheint Arturo, «der Dichter der Familie», bestens gerüstet, in der Stunde der Entscheidung seinen Mann zu stehen. Doch als auf einer «literarischen Stegreifparty» die Nachricht vom Militärputsch eintrifft, steht er gerade unpässlich auf einem «Stuhl aus Araukarienholz», um zittrig vor Aufregung und Alkohol den fünfzehnten Vers eines der besten Gedichte von Nicanor Parra vorzutragen – «und von dort oben schienen der Boden, die Arabesken des Teppichs unendlich weit entfernt».

Einer brüllt, er solle «die Klappe halten», Chaos bricht aus, und alle stürmen nach draussen, nur Arturo bleibt zurück, vom Stuhl gefallen und bewusstlos. Als er aufwacht, liegt sein Kopf im Schoss der anmutigen Patricia Arancibia, die allein mit ihm zurückgeblieben ist. Kein Wunder, ist es um jeden erotischen Widerstand geschehen: «Ich war zwanzig und zum ersten Mal im Leben verliebt! Das wusste ich sofort . . . Und ohne dass ich es hätte vermeiden können, brach ich in Tränen aus.» Arturos Stunde der wahren Empfindung ist nicht die patriotische linke Erhebung, sondern eine sehr private gemeinsame Erregung – in einem Landhaus, das an jenes von «Psycho» erinnert, sowie auf berauschenden Fahrten zu zweit in einem VW Käfer durch das tiefe Chile zum «schönsten Fluss am Arsch der Welt».

Die politische Distanznahme ist augenfällig, im Zweifelsfall triumphiert bei Bolaño immer die Macht der Poesie. Wohl schildert «Family Plot», wie Arturos zerrüttete Familie ob der gemeinsamen Verzweiflung über den Putsch den Rank findet und dann doch zerbricht. «Die Messerschmitt» thematisiert die üble Lage der in Polizeisporthallen internierten politischen Gefangenen, doch wird der verprügelte Erzähler beim Blick durchs Fenster der Jagdkampfflugzeuge gewahr, die am Himmel kreisen. Eine Messerschmitt vollführt nicht nur unglaubliche Luftakrobatik, sondern malt zugleich Schriftzüge an den Himmel – und zwar ausgerechnet Verse, die er mit Patricia geteilt hatte. «Völlig weggetreten» von der modernistischen Ästhetik der Überwältigung, weiss sein Freund Gaspar Yáñez, worum es geht: «[Der Flieger] verkündet den Beginn der faschistischen Literatur.» Bekanntlich hat Bolaño dem halsbrecherischen faschistischen Flugzeugpoeten in «Die Naziliteratur in Lateinamerika» (1996) eine Erzählung gewidmet und diese im Roman «Stern in der Ferne» (1996) breit ausgeführt.

Ein unsicherer Kantonist

Was das Vertrauen auf das Gute im Menschen und die Zuversicht auf einen der Geschichte innewohnenden Sinn betrifft, ist Roberto Bolaño ein höchst unsicherer Kantonist. Die dunkle Seite der Dinge übte auf ihn eine Faszination aus, der er sich nie entziehen konnte. Im Schönen lauern immer auch das Monströse und die Gewalt, und die Literatur vermag die Dinge zu beschreiben und zu benennen, doch sie zu entschlüsseln oder gar zu bannen vermag sie nicht.

Gegen das Pathos allen Bescheidwissens hat Bolaño stets Komik und Ironie, Groteske und Absurdität gesetzt. Literatur als Spiel mit Fakten und Fiktionen, Stilen und Traditionen ist ihm ein Mittel zur Verrätselung, eine heitere Methode, das Widersprüchliche der Dinge und das Aporetische von Situationen herauszuarbeiten. Wohl ist Literatur ein Antidot gegen die Traurigkeit der Welt, aber zugleich eine Warnung vor dem, was auch noch kommen könnte. Kein Wunder, gehen in Bolaños Prosa Wachheit und Traum, Somnambulismus und Sophismus, Kunst und Leben eine immer neue Metamorphose ein.

Es gehört zum unergründlichen Spektakel dieser Verwandlung, dass seit Jahren immer neue, lebensfrische Prosatexte aus den Papierbergen und Computerfestplatten dieses bahnbrechenden lateinamerikanischen Autors auftauchen. Verblüffend bleibt, wie «ganz» Roberto Bolaño in seinen frühen Skizzen, Versuchen und Fragmenten schon da war. Es sind die zauberischen Anfänge eines dunkel leuchtenden Werkes, dessen Ergründung glücklicherweise nie zu einem Ende kommen wird.

Roberto Bolaño: Cowboygräber. Drei Erzählungen. Aus dem Spanischen von Christian Hansen und Luis Ruby. Mit einem Nachwort von Heinrich von Berenberg. Verlag Carl Hanser, München 2020. 191 S., Fr. 33.90.

Mehr von Andreas Breitenstein (ABn)

Mehr von Andreas Breitenstein (ABn)

Weitere Artikel