Faszinosum Bullet Journal

Elisabeth Steinkellners „Papierklavier“ besticht als eindrückliche Ästhetisierung eines jugendlichen Tagebuchs

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elisabeth Steinkellner, vielfach preisgekrönte Autorin von Kinder- und Jugendbüchern, gibt in Papierklavier einen kurzen, nichtsdestoweniger tiefgründigen Einblick in das Leben der 16-jährigen Maia. Während die Autorin in ihrem ersten Jugendroman, Rabensommer (2015), fortlaufenden Text und eine ebensolche Geschichte bevorzugt, bleiben Maias Empfindungen und das Geschehen um sie herum ein unabgeschlossenes Intermezzo. All das oftmals in einem Stil, dem etwas Rhythmisches und Skandierendes innewohnt und der sich damit fast in einen Zwischenraum der Epik und Lyrik begibt. Eine ähnliche Genre-Hybridisierung hat Steinkellner bereits in Dieser wilde Ozean, den wir Leben nennen (2018) vorgelegt.

Maia schreibt Tagebuch, oder besser, sie legt, wie sie selbst über ihr Unterfangen sagt, ein Skizzenbuch an. Als Älteste eines Schwesterntrios – Ruth und Heidi kommen nach ihr – vertritt sie manchmal die vollzeitberufstätige und dauermüde alleinerziehende Mutter. Heidi verbringt viel Zeit bei Ersatzoma Sieglinde, wo sie mit Begeisterung und viel Talent lernt, auf dem „Zebra“, einem alten Flügel, zu spielen. Doch plötzlich stirbt Sieglinde, Heidi findet sie und ist außer sich. Zunächst spielt sie auf einem Klavier weiter, das sie großflächig auf mehrere Bogen Papier gemalt hat. Maia, die etwas Geld in einem Smoothie-Kiosk, einem „Saftladen“, verdient, sucht einen zweiten Job, um Heidi den Instrumentalunterricht zu finanzieren. Daneben interessiert sie sich für den „Tattoo-Typen“, der einen Frucht-Smoothie bei ihr gekauft hat, geht mit ihren Freundinnen Carla und Alex aus, tanzt und betrinkt sich. Schließlich stellt sich heraus, dass Oma Sieglinde, „immer für eine Überraschung gut“, der Ein-Eltern-Familie die Rechte an einem Musikstück vererbt hat. Ob das einen finanziellen Vorteil bringt, bleibt offen.

Gemeinsam mit der Illustratorin Anna Gusella verknappt Steinkellner gekonnt gesellschaftlich brisante Themen, offenbart die mit ihnen verlinkten Heterogenitätsdimensionen – alles, was von einer impliziten sozialen Normalität abweicht. Wurzel aller Unannehmlichkeiten ist die relative Armut, unter der Mutter und Kinder leiden, zudem die Vorurteile, die ihnen entgegenschlagen, wenn Menschen in ihrem Umfeld erfahren, dass die Mädchen von drei verschiedenen Vätern abstammen. Maia, Ruth und Heidi müssen sich ein 9 qm Zimmer in der engen Zwei-Zimmer-Wohnung teilen, Rückzugsmöglichkeiten fehlen, alles in dieser Familie sei „zu knapp“. Oma Sieglinde hat mit vielem ausgeholfen, obgleich Maia manchmal befürchtet hat, dass Mutter und Töchter ihr „soziales Projekt“ seien.

Während Ruth, das Sandwich-Kind, tendenziell im Hintergrund bleibt, werden Heidi und Maia mit ihren Begabungen fokussiert. Maia schreibt nicht nur für den „Saftladen“ ansprechende und ästhetisch gelungene Werbetafeln, sondern sie gelangt mit ihrer Bewerbung um den grafischen Beitrag in einem Frauenmagazin in den Kreis der drei Finalistinnen. Ihr Kunstlehrer hat sie zu diesem Wettbewerb ermutigt. Für Heidis weitere musikalische Förderung hingegen muss ein Geldbetrag eingesetzt werden, den die Familie nicht aufbringen kann. Ob sie sich, so wie Will Freeman in Nick Hornbys About a boy durch das Weihnachtslied seines Vaters, mit den Rechten an Sieglindes Musikstück ein monetär sorgenfreies Leben leisten und weitere Klavierstunden finanzieren kann, ist gänzlich ungewiss.

Maia ist übergewichtig oder erlebt sich zumindest so, weil sie in ihrem Alter Größe 42 trägt und im „Saftladen“ auch schon einmal auf einen „Fetter-Arsch-Sager-Arsch“ getroffen ist. Ihr Verhältnis zu den Kilos ist ambivalent: Zum einen hat sie Angst, nicht attraktiv zu sein, zum anderen kritisiert sie die starre Normierung von Schönheit. Darin unterstützen sie ihre beiden Freundinnen Carla und Alex. Carla heißt eigentlich Engelbert. Sie wechsle aber nicht die Identitäten, so betont sie, sie sei immer sie selbst, nur für die Leute sei es einfacher, wenn sie in eine Kategorie, männlich, weiblich oder transgender, gesteckt werden könne. Alex erlebt sich als Frau, die im jugendlichen Alter hohe Ansprüche an ihre Liebhaber hat, aber auch meint, dass man als Frau „generell die Arschkarte gezogen“ und gegen Widerlichkeiten zu kämpfen habe. Alle drei erleben sich als Außenseiter*innen, halten fest zusammen gegen den Rest der Welt, in dem lediglich „Daumen hoch“ oder „Daumen runter“ zähle.

An diesen Leuten mit ihren ach so perfekten Looks und ihren ach so perfekten Leben ist alles mehr Pose als Authentizität, mehr Berechnung als Spontaneität, mehr Absicht als Originalität.

Das hier angestimmte Lamento um die Diskrepanz zwischen Schein und Sein sowie die Einsicht, dass Performanz nicht immer an Kompetenz zu koppeln ist, wirkt auf den ersten Blick stereotyp und unoriginell, auch ein bisschen anbiedernd, dennoch glaubwürdig und für die anvisierte Leser*innengruppe vollumfänglich passend. Genau wie bei den anderen Themen reduziert sich das Vorkommen der Social-Media-Plattformen und ihrer Effekte auf eine Evokation und eine nur punktuell eingenommene Distanz dazu. Auch damit unterstreichen die Autorin und die Illustratorin, dass sie sicherlich nicht den Anspruch der vollkommenen Ausarbeitung erheben, sondern ihr Werk eher etwas Kursorisches hat und seine Lebendigkeit gerade aus einer gewollten Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit bezieht. So ergibt sich das Paradoxon einer ganzheitlichen Momentaufnahme oder dynamischen Statik, ein „work in progress“, mit dem das Leben „in progress“ eingefangen wird. Dem Verzicht auf die Paginierung und dem daraus resultierenden Eindruck, dass ein literarisches Stück in einem Guss vorliegt, widerspricht die Seinsweise eines „Bullet Journal“. Auf manchen Doppelseiten dominieren die Abbildungen und der Text selbst kommt in unterschiedlichen Schrifttypen daher. Sie imitieren Maias wechselnde und flatterhafte Handschrift.

All diese Faktoren wirken vortrefflich zusammen, um das präadulte Stadium der Transition, in dem Maia sich befindet, zu verdeutlichen. Der beherzte Zugriff auf das Leben eines Mädchens an der Schwelle zum Erwachsensein glänzt als literarische Entität, die in sich gleichermaßen divers ist und Diversität darstellt. Exemplarisch dafür sind auch die Farben von Text und Illustrationen. Zum Einsatz kommen ausschließlich die Farben Weiß, Schwarz und Lindgrün mit Filz- oder Buntstiften, mitunter einem Kohlestift. Die dynamische, wenig geradlinige Strichführung ist zu sehen, auch dies konform mit der Definition eines „Bullet Journal“ oder Skizzenbuchs. Das Fragmentarische und Uneinheitliche baut den inhaltlichen Heterogenitätsdimensionen eine perfekte Bühne.

Trotz aller Widrigkeiten hat Maia am Ende ein Stück weit zu sich selbst gefunden. Der versöhnliche Schluss, in den ihr Skizzenbuch mündet, übergießt das durchaus positiv Inkohärente mit einem Goldglanz der Hoffnung, ohne es verschwinden zu lassen:

Ich schütte die vielen kleinen Glücksportionen der letzten Wochen vor mir aus – und staune, weil sie meinen See augenblicklich auf Hüfthöhe anwachsen lassen. Also hole ich tief Luft und tauche ab. Und wie ich mich so umsehe, stelle ich fest: Es ist alles andere als perfekt hier. Aber eindeutig ziemlich schön.

Jugendliterarisch innovativ zu sein ist alles andere als einfach. Tamara Bach mit Vierzehn (2016) und Dita Zipfel mit Wie der Wahnsinn mir der Welt erklärte (2019), das eine Buch nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2017, das andere Preisträger desselben in der Sparte Jugendbuch im Jahre 2020, zeigen, wie es gehen kann. Elisabeth Steinkellner und insbesondere Anna Gusella haben sich mit Papierklavier vermutlich von der Machart des Jugendromans von Dita Zipfel inspirieren lassen, auch eine inhaltliche Parallele – die Protagonistinnen suchen einen Job – gibt es. Was Papierklavier von vergleichbaren Werken abhebt, ist die inhaltlich gelungene Kompilation der Heterogenitätsdimensionen sozialer Status, Gender und Physis sowie ihre formale Umsetzung in einem Skizzenbuch. Ergebnis ist eine gelungene ästhetische Totalität, die von der Reibung ihrer Dynamik und Widersprüchlichkeit gleichermaßen genährt wird.

Titelbild

Elisabeth Steinkellner: Papierklavier.
Illustriert von Anna Gusella.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2020.
140 Seiten ,
ISBN-13: 9783407755797

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