(K)ein Wintermärchen in Cornwall

„Winter“, der zweite Band von Ali Smiths grandiosem Jahreszeiten-Quartett, liegt nun auf Deutsch vor

Von Sandra VlastaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Vlasta

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Sie dies lesen, ist es fast ein kleines bisschen zu spät: Der zweite Band aus Ali Smiths wunderbarer Jahreszeiten-Tetralogie ist eigentlich die ideale Weihnachtslektüre, setzt die Handlung doch am Morgen des 24. Dezember ein. Aber keine Angst: Wie stets bei dieser schottisch-englischen Ausnahmeautorin (geboren in Inverness, seit Jahren in Cambridge zu Hause) ist der Roman gleichzeitig zeitlos und doch sehr nah am Zeitgeschehen. Letzteres hat sich Smith für das Jahreszeiten-Projekt explizit vorgenommen. Nachdem das Manuskript ihres Romans How to be both (2014; dt. Beides sein, 2016, wie alle anderen Werke Ali Smiths übersetzt von Silvia Morawetz) erst in letzter Minute fertig wurde, und dann doch innerhalb von sechs Wochen zum geplanten Termin erscheinen konnte (noch dazu mit einem aufwendigen Druckverfahren, das zwei verschieden gedruckte Versionen des Romans vorsah), beschloss Smith gemeinsam mit ihrem Verlag Hamish Hamilton, diesen Arbeitsprozess für ein besonderes Projekt fruchtbar zu machen, eben die Jahreszeiten-Tetralogie.

Für jeden der vier Bände war ein sehr kurzer Schreibprozess von lediglich vier Monaten vorgesehen, der es ermöglicht, auf aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse Bezug zu nehmen, wie Ali Smith ausführt. Sie wollte damit dem Roman seine ursprüngliche Bedeutung zurückgeben und wie auch im 19. Jahrhundert unter anderem Charles Dickens in Form des Fortsetzungs-(oder Feuilleton-)romans über Neuigkeiten und aktuelle Geschehnisse schreiben. So entstanden in den letzten vier Jahren in rascher Abfolge die vier Bände Autumn (Oktober 2016; dt. Herbst, 2019), Winter (November 2017), Spring (März 2019) und, 2020 im Juli erschienen, Summer.

Herbst wurde von Kritikern als einer der ersten Brexit-Romane bezeichnet und in der Tat nimmt Ali Smith in diesem wie auch in den folgenden Bänden Bezug auf die britische Brexit-Abstimmung und ihre Folgen. Gleichzeitig betont sie aber, dass die Jahreszeiten-Bände sich nicht nur mit diesem Thema auseinandersetzen, sondern mit so viel mehr, was die Leserinnen und Leser schon merken, wenn sie die Bücher zum ersten Mal in der Hand halten: Die englischen Originalausgaben der ersten drei Bände sind buchtechnisch aufwändig gestaltete, stoffgebundene Bücher, die sich nicht nur durch die ähnliche typographische Einbandgestaltung auszeichnen, sondern vor allem durch die Verwendung eines Jahreszeiten-Zyklus von David Hockney, eines baumbestandenen Weges („tunnel“) im Wechsel der Jahreszeiten. Leider hat der deutschsprachige Verlag wie schon in der Ausgabe von Herbst nicht auf das Originalcover zurückgegriffen, sondern sich für den vorliegenden Band Winter für ein abstraktes blau-weißes Himmelsbild entschieden. Der in Smiths Werken immer wichtige Bezug zur bildenden Kunst wird somit abgeschwächt, nicht zuletzt auch durch den fehlenden Abdruck von Barbara Hepworths Bild Winter Solstice (1971) auf den letzten Seiten bzw. am Nachsatz des Romans. Wie in jedem ihrer Romane werden auch in Winter eine Künstlerin und ihr Werk thematisiert, in diesem Fall sind es Hepworths glatte Steinskulpturen, die eine der ProtagonistInnen besonders mag und die im letzten Band, Summer, wieder eine Rolle spielen. Auch der Flattersatz, also das Ausfransen der Zeilen am rechten Seitenrand, ein weiteres Kennzeichen von Smiths Texten, wurde vom deutschen Verlag nicht übernommen. Der Text präsentiert sich den Leserinnen und Lesern daher (leider!) anders als das Original.

Den Inhalt des Romans könnte man wie folgt zusammenfassen: er erzählt die Geschichte eines Weihnachtsfamilienfestes in einem großen Haus in Cornwall. Das Haus gehört Sophia, einer ehemals sehr erfolgreichen Geschäftsfrau, die ihrer Karriere sehr vieles hintangestellt hat, wie wir von ihrem ebenfalls anwesenden Sohn Arthur und ihrer Schwester Iris erfahren. Nicht nur in den immer wieder eingefügten Rückblicken ins Familienleben, sondern auch im gegenwärtigen Umgang mit den anderen wird klar, dass das Familienleben nicht zu Sophias Prioritäten gehört. Und doch gibt es seit kurzem eine sie begleitende Erscheinung, mit der sie ihr Haus teilt: ein schwebender Kinderkopf – oder ist es doch nur ein Punkt in ihrem Sehfeld (die Optikerin meint: nein), der ab und an auch wie der Kopf eines älteren Mannes aussieht?

Der Kopf ist ein typisches Erzählelement Smiths, die immer wieder mögliche Produkte der Einbildung ganz real auftreten lässt. Ihre Protagonisten staunen darüber genauso wie wir als Leserinnen und Leser, die wir damit beschäftigt sind, diese Erscheinungen irgendwie einzuordnen. Auch Arthurs Sohn wird später im Roman von einem Felsbrocken begleitet, ein weiteres Element, das nicht nur ihn, sondern auch uns fragend zurücklässt.

Das Weihnachtszusammentreffen ist erzählerisch vielschichtig: Es bringt bei mehrmaligem Mitternachtsläuten Erinnerungen an Episoden aus Sophias Leben zurück, gleichzeitig bilden dieses Läuten und die hervorgerufenen Geister literaturgeschichtlich eine Parallele zu Charles Dickens’ A Christmas Carol, wohl eine der berühmtesten Weihnachtsgeschichten, auf die auch eines der Eingangszitate im Buch verweist (der Ausdruck für Scrooges Vorliebe für die gratis zu habende Finsternis: „Dunkelheit ist günstig.“). In diesen Episoden erfahren wir außerdem mehr über Iris, die, ganz im Unterschied zu ihrer karrierebewussten Schwester, ihr Leben dem politischen Protest (gegen Atomkraft, gegen Umweltverschmutzung, gegen den Klimawandel) und dem Einsatz für sozial Benachteiligte gewidmet hat (gerade kommt die 70-Jährige von einer griechischen Insel, wo sie Geflüchtete unterstützt hat). Nicht zuletzt hat sie ihrer Schwester beim Aufziehen von deren Sohn Arthur geholfen, für den beide Frauen ganz unterschiedliche Mutterfiguren darstellen.

Arthur selbst – der Bezug auf den legendären König Arthur ist unverkennbar, wird aber gleichzeitig auf der ersten Seite des Romans weggewischt, wo es heißt: „…Romantik war tot. Ritterlichkeit war tot.“ – erscheint rastlos: Beruflich verfolgt er Künstler, die Verletzungen des Urheberrechts begangen haben, privat betreibt er einen Blog mit dem Titel „@rtinnature“, also Art (kurz für Arthur, aber auch das englische Wort für Kunst) in der Natur. Wie wir bald merken, ist diese Inszenierung als Naturliebhaber und -kenner nicht sehr realitätsnah und wird zudem durch seine Ex-Freundin mit (absichtlich) von Rechtschreibfehlern triefenden Tweets sabotiert. Die folgenden „Mini-Twitterstorms“ bereiten ihm genug Kopfzerbrechen (lassen @rtinnature aber vorübergehend auch in der Twitter-Spalte „trending“ erscheinen), deshalb mag er die Trennung von seiner Freundin nicht auch noch zu Weihnachten thematisieren müssen. Er fällt daher kurzentschlossen die Entscheidung, die kroatische Studentin Lux, die er in London an einer Bushaltestelle kennengelernt hat, zu bitten, ihn gegen Bezahlung nach Cornwall zu begleiten und sich als seine Freundin auszugeben – Fiktion also, gleich welchem Lebensbereich Arts man auch folgt.

Mit Lux ist die vierte Protagonistin des weihnachtlichen Zusammentreffens vorgestellt. Sie bildet eine wichtige Verbindung zum literarischen Hintergrund des Romans, ist sie doch nicht zuletzt wegen Shakespeare und seinem Stück Cymbeline nach Großbritannien gekommen („Ich habe es gelesen und gedacht, wenn dieser Autor aus diesem Land dieses verrückte und bittere Chaos zu solcher Schönheit führen kann […], dann gehe ich in dieses Land, dann will ich dahin und da leben.“). Lux ist eine typische Smith-Figur. Wie ihr Name schon nahelegt, ist sie mehr Erscheinung als Person; wenngleich den Anderen unbekannt (und diese ihr), gelingt es ihr, zu allen eine besondere Verbindung aufzubauen und sei es nur, indem sie in einer ganz einfachen Geste Rühreier zubereitet und so Fürsorge und Interesse zeigt. Eine Zeile aus Cymbeline stellt das erste Eingangszitat zum Roman dar: „Noch des Winters grimmen Hohn.“ Und in einem Gespräch zwischen Sophie und Lux wird deutlich, dass dieses Stück einen der vielen Kommentare des Romans zum Zeitgeschehen darstellt: „Ein Stück über ein Königreich, das in Chaos, Lügen, Machtgeschacher und Uneinigkeit versinkt“, fasst Sophia zusammen.

Wie schon Herbst und frühere Werke Smiths, ist auch Winter durch wechselnde Stile gekennzeichnet: realistische, zum Teil fast slapstickhafte Szenen (wie jene am Postamt in Herbst) wechseln mit assoziativen Abschnitten ab, in denen vieles bewusst offen bleibt oder in der Schwebe gehalten wird. Damit einher geht eine große sprachliche Bandbreite, die von einfachen, kurzen Sätzen, wenn zum Beispiel gleich am Anfang typische automatische Satzergänzungen in Suchmaschinen zitiert werden (das oben bereits genannte: „Ritterlichkeit war tot. Poesie, der Roman, Malerei, sie waren alle tot.“), über teils kalauerhafte, teils hochpoetische Sprachspiele bis zu etymologischen Erklärungen reicht. Das Zusammentreffen der vier unterschiedlichen Charaktere führt zu keinem Fazit, man ist sich nähergekommen, aber auch nicht zu nahe, man geht wieder auseinander. Wie Wolfgang Müller-Funk gemeint hat, mögen die zwei Schwestern Sophia und Iris sowie Arthur für die verschiedenen Positionen in der Brexit-Diskussion stehen, die teils mythisch anmutende Lux dagegen – als Europäerin? – die Verbindung darstellen, die zumindest punktuell das Zusammensein doch ermöglicht. Drei Jahre nach seinem Ersterscheinen und sehr viele politisch sowie gesellschaftlich einschneidende Ereignisse später (sowohl in Großbritannien als auch in Europa und weltweit), ist dieser Hoffnungsschimmer zwar immer noch da, wenngleich um einiges getrübter. Das Leuchten, das von Ali Smiths betörender Prosa ausgeht, ist aber keinesfalls erloschen und nun im zweiten Band des Jahresezeitenquartetts auch in deutscher Übersetzung zugänglich.

Titelbild

Ali Smith: Winter. Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2020.
300 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875798

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