Ständig wieder widerständig!

Michael Baums dekonstruktivistische Streitschrift gegen den Didaktikmainstream

Von Fabian WolbringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Wolbring

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass der Pisa-Schock von 2000 auch zwanzig Jahre nach Veröffentlichung der Studienergebnisse noch weitreichende Auswirkungen auf den herrschenden Bildungsdiskurs hat, lässt sich kaum bestreiten. Die allgegenwärtige Tendenz zu Standardisierung und Empirismus führt dabei gerade im Feld der Literaturdidaktik nach wie vor beinahe notwendig zu Störgefühlen: Wie können Literarisches Lernen und ästhetische Erfahrung in positivistische Kompetenzmodelle überführt werden, ohne ihrer genuinen Ambivalenz beraubt zu werden? 

Konsequenter als bei anderen literaturdidaktischen Ansätzen poststrukturalistischen Gepräges zuvor (allen voran Kaspar Spinners hinlänglich bekannten 11 Aspekten Literarischen Lernens) lautet Michael Baums Antwort hierauf schlicht: gar nicht!  Radikal unversöhnlich wettert er in der Streitschrift Der Widerstand gegen Literatur. Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik wortreich gegen die allgegenwärtige fachdidaktische Orientierung an   „eilige[m] Empirismus und deterministische[m] Kognitivismus“, ihrer „techno-instrumentelle[n] Metaphorik“ und der damit einhergehenden subtilen „Merkantilisierung des Wissens“, der postulierten „Fiktion der Vergleichbarkeit, Messbarkeit und Steigerbarkeit literarischen Verstehens“ und der impliziten Leugnung und „Unsichtbarmachung von Kontingenz“. Baum gibt sich widerständig; ständig wieder.

Durch die Verve, mit der sich Baum dem didaktischen Mainstream verweigert, entwickelt   diese Schimpflitanei bei aller Redundanz eine große Überzeugungskraft. Zudem referiert der Autor in tiefer theoretischer Fundierung das Who’s Who postmoderner Meisterdenker von Derrida über de Man bis Barthes, Lyotard und Foucault. Argumentativ setzt Baum dabei vor allem auf den medialen Eigensinn von Sprache und Literatur, wobei er die dekonstruktivistische Sprachkritik in Teilen für das digitale Medienzeitalter erweitert und aktualisiert. Die Gründlichkeit dieser theoretischen Herleitung bedingt eine große Schlagseite der Ausführungen in Richtung Literaturtheorie, wobei „Literatur“ selbst leider nicht näher definiert wird und gerade dadurch eine befremdlich essentialistische Aufladung erfährt. Bis mit Kleists Fabel ohne Moraldann ein erstes konkretes literarisches Beispiel angeführt wird, sind bereits 110 Seiten gelesen und auch dieses dient mehr der Veranschaulichung des theoretischen Unterbaus als etwa der Konkretisierung eines im Baumschen Sinne wünschenswerten Literaturunterrichts.

In Ablehnung jedweder „Lehrbarkeitsdoktrin“ verzichtet Baum – wiederum konsequent – beinahe vollständig auf die Skizzierung einer schulpraktischen Umsetzung seiner Agenda und gesteht offen: „Es gibt hier kein Modell und keinen Begriff, in dem sich verdichtet, wie man es denn zu machen hat, wenn man es richtig machen will.“ Gleichwohl nimmt sich Baum Zeit für eine ausgiebige Kritik zweier didaktischer Analysemodelle (einmal tendenziell wohlwollend gegenüber Lösener, einmal tendenziell kritisch gegenüber Frederking). Die scheinbar offene Frage, „ob Schule und Bildung überhaupt noch bzw. jemals miteinander vereinbar sind oder ob Bildung immer eine Form des Widerstands gegen die Schule sein wird“, beantwortet Baum relativ offensiv zugunsten des Widerstands. Eine vage Anmutung von Versöhnbarkeit findet sich allerdings in der leitmotivisch wiederkehrenden Formel „Literatur soll gelehrt werden, weil sie nicht gelehrt werden kann“, die eine Kultivierung bewusst scheiternder Lektüren als Möglichkeit gelingenden Literaturunterrichts erahnen lässt. 

Dass Baum in seiner widerständigen Verweigerung positivistischer Lehrbarkeitsdoktrinen ebenso verabsolutiert wie sein affirmierender Widerpart, lässt sich dabei mit gleichem Recht als Beleg einer widersprüchlichen Inkonsequenz wie auch einer konsequenten Widersprüchlichkeit auffassen. Dabei mag man sich Baum selbst anschließen, der schreibt: „Paradoxien sind nicht durchzustreichen, sondern anzuerkennen“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Baum: Der Widerstand gegen Literatur. Dekonstruktive Lektüren zur Literaturdidaktik.
Transcript Verlag, Bielefeld 2019.
282 Seiten, 39,99€ EUR.
ISBN-13: 9783837645934

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