Über die Bürgerpflicht

„Marseille.73“: Dominique Manottis Lehrstück über den Fremdenhass

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Grund genommen eine einfache Geschichte, und eine sich stets wiederholende dazu: Bürgerlicher Mob fühlt sich bedroht und im Recht, sich gegen „Eindringlinge“, die angeblich die eigenen Gefilde überfluten, mit allen Mitteln zu wehren. Naheliegend nehmen diese Eindringlinge einem alles weg, was einem lieb und wert ist, Lebensart, Arbeitsplätze, Sozialsystem, die Nachbarschaft, Sicherheit, Geld, Frauen. Solche Leute verdienen ihre Kohle offensichtlich mit kriminellen Mitteln, machen die Straßen unsicher und beschweren sich auch noch, wenn sie nicht von allem genug abbekommen. Die Islamisierung ist nicht weit. Und das im christlichen Abendland! Und das uns!

Übertrieben? Unsachlich? Ach wo.

Exemplarisch kommt Dominique Manotti in ihrem neuen Roman Marseille.73 auf den Fremdenhass zu sprechen, und zwar in einer seiner für eine liberale Gesellschaft extremeren Fassungen. Die Folie, auf der ihr Roman aufsetzt, wird vom Ende des französischen Kolonialismus in Algerien nach einem langen und – wie man lesen kann – von beiden Seiten grausam geführten Befreiungskrieg gebildet. Die Konsequenzen sind vielfältig: Die Rückkehr der in den Kolonien angesiedelten Franzosen und der Besatzungsarmee gehört dazu, zudem die der Algerier, die sich zu sehr aufs Kolonial-Regime eingelassen hatten, als dass sie im nunmehr befreiten Land eine Überlebenschance gehabt hätten. Außerdem kommen in den 1960er Jahren zahlreiche Algerier nach Frankreich, um dort zu arbeiten, was bei den Kolonialfranzosen weniger als ökonomische Notwendigkeit, denn als Aggression wahrgenommen wird: Jetzt schlägt die Kolonie zurück.

Zwar ist die französische Terrororganisation OAS (Organisation Armée Secrète), die den Kampf um die Kolonien im Untergrund weiterführte, bereits seit den frühen 1960er Jahren zerschlagen. Aber das anti-algerische Ressentiment sitzt tief, vor allem im Süden Frankreichs. Und wie man es von Franzosen kennt, sind sie beim Ausleben solcher Konflikte nicht eben zimperlich. Auch zehn Jahre nach der algerischen Unabhängigkeit nicht.

Sprung also ins Jahr 1973 und nach Marseille, und mitten ins Gewühle um Algerier und Franzosen: Die tiefe Verstrickung des Polizeiapparats in die fremdenfeindlichen Aktivitäten und Haltungen machen den eigentlichen Plot dieses Romans aus. Zahlreiche der in Algerien im Kolonialapparat aktiven Franzosen („pieds-noir“ werden die Algerienfranzosen genannt) sind – zurück in Frankreich – im Polizeiapparat untergekommen. Eine Reihe von ihnen war in verschiedene Skandale verwickelt und wurde schon wieder gefeuert, aber im Grunde genommen funktionieren die alten Seilschaften. Es sind immer noch genug vertrauenswürdige Leute da. Sie geben Schutz, tauschen Informationen aus und organisieren alles, worauf es ankommt, quer durch alle Apparate hindurch.

Das kann man nutzen, vor allem dann, wenn es darum geht, die alte Sache mit Algerien immer noch nicht ruhen zu lassen: Die Ermordung eines Busfahrers durch einen psychisch Kranken wird zum Anlass genommen, endlich zu entschiedeneren Aktionen zu greifen, lange nach den Terrorakten der OAS: Ein junger Mann, der sich zu einem Rendezvous eingestellt hat, wird deshalb eines Abends von Unbekannten auf offener Straße erschossen. Ein Zufallsopfer, ein Mord, mehr noch, eine Hinrichtung, keine Frage.

Die Ermittlungen aber werden verschleppt, der zuständige Richter ist erst einmal in einem längeren Sommerurlaub, ein Mord im Drogenmilieu wird offiziell vermutet, die Brüder des jungen Mannes werden bezichtigt, an der Vorbereitung eines Attentats beteiligt gewesen zu sein. Ein Kleinkrimineller, der mit der Polizei zusammenarbeitet, wird auf sie angesetzt. Dass es Rassismus in Frankreich gebe, wird von offizieller Seite vehement abgestritten. Also alles wie immer?

In Manottis Roman ist es den Bemühungen einer kleinen Gruppe von Ermittlern um Kommissar Daquin zu verdanken, dass es eben nicht gelingt, den Fall geräuschlos zu den Akten zu legen. Allerdings drängt sich der beiläufige Eindruck auf, es hier eigentlich nicht mit einer heroischen kleinen Ermittlertruppe zu tun zu haben. Ihre Ermittlungen gehen stattdessen auf eine tief sitzende Konkurrenz zwischen verschiedenen Polizeibehörden zurück, bei der auch diese Ermittler mehr Werkzeug als rechtsversessen sind.

Das Renommee, das sich Dominque Manotti in den vergangenen Jahren erworben hat, geht nicht auf die erzählerische Brillanz oder die Komplexität ihrer Erzählungen zurück. Ganz im Gegenteil, ihr Stil ist extrem zurückgenommen und sachlich. Selbst wenn sie sich den Begehrlichkeiten ihres Protagonisten Daquin widmet, der eine Liaison mit einem Anwalt im betont homophoben Marseiller Milieu pflegt, nimmt sich Manotti zurück. Ihre Handlungsstränge sind fast linear angeordnet. Parallele Handlungen werden so angelegt, dass ihre Nachvollziehbarkeit gewährleistet ist. Ordnung, Struktur, Sachlichkeit sind Manottis Qualitäten.

Gerade aber durch diese Zurückhaltung entwickelt sie erst die Brisanz ihrer Erzählung, hier indem sie die bedingungslose Indienstnahme des Polizeiapparats für die aggressive Vernichtungspolitik einer Gruppe von Algerienfranzosen vor den Augen ihrer Leser/innen vorführt. Auch, indem sie einerseits die Erbärmlichkeit und Verlogenheit dieser Gruppe vorstellt, die sich andererseits selbst vorgaukelt, dass alles, was sie tut, als Dienst an der Gesellschaft, als Ausdruck staatsbürgerlicher Verantwortung anzusehen und damit legitimiert ist. Biedermänner können sehr gut korrupt sein.

Man kann zur Begründung auf die lange Geschichte des französischen Kolonialismus zurückverweisen. Aber die Brüche dieser Welt sind grundlegender: Die Aufteilung der Welt in Fremdes und Eigenes, in Fremde und Eigene hat grenzenlos gewalttätige Folgen, die über die Morde, die im Namen bürgerlicher Ehrbarkeit unternommen werden, hinaus gehen. Am Ende nämlich sind alle nachhaltig beschädigt, mindestens derart, dass aus der alten Gewalt neue entsteht, die wiederum Gewalt nach sich zieht.

Außerdem sind das Geschichten, die sich nicht auf das Frankreich der frühen 1970er Jahre beschränken, sondern ihre Brisanz auch in der Gegenwart der Bundesrepublik entwickeln. Nicht zum ersten Mal. Eine bittere Lehre also, die dieser Blick in eine fast fünfzig Jahre zurückliegende Vergangenheit ermöglicht, zugespitzt in einem Stück Gebrauchsliteratur. In diesem Fall Brauchbarkeit im besten Sinne.

Titelbild

Dominique Manotti: Marseille.73.
Aus dem Französischen von Iris Konopik.
Argument Verlag, Hamburg 2020.
397 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783867542470

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