Nichts leichter und nichts schwerer, als in Kiew eine Geburtsurkunde zu erhalten

Ein Auswandererkind kommt zurück in die Stadt der frühen Jahre. Und plötzlich hängt es zwischen den Zeiten und zwischen den Welten.

Paul Jandl
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Die Reise zurück in die Vergangenheit erweist sich als ein Gehen im Kreis. Ein Kind zieht im verschneiten Kiew eine Spur.

Die Reise zurück in die Vergangenheit erweist sich als ein Gehen im Kreis. Ein Kind zieht im verschneiten Kiew eine Spur.

Sergey Dolzhenko / EPA

Was ist schon normal? Unter den milde verlotterten Lebensbedingungen des Ostens ist das Normale normal, aber auch das Gegenteil ist wahr: Weil nie etwas so ist, wie es sein sollte, ist auch die Katastrophe normal. Wer soll sich da auskennen? Dmitrij Kapitelman kennt sich ohne Zweifel aus. 1986 in Kiew geboren und im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland übersiedelt, schaut er mit dem Doppelblick der Ironie auf die alte und die neue Heimat. Auf kreative Dysfunktionalität dort und überschiessende Bürokratie hier.

Kapitelmans neues Buch, «Eine Formalie in Kiew», ist eine Amtswegsgroteske, die sich zum Familiendrama ausweitet. Denn das Leben selbst ist keine Formalie. Es kann jederzeit die Form verlieren und sich gerade dann auflösen, wenn man meint, die Fäden in der Hand zu halten.

Der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman wurde 1986 in Kiew geboren und lebt seit Mitte der neunziger Jahre in Deutschland.

Der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman wurde 1986 in Kiew geboren und lebt seit Mitte der neunziger Jahre in Deutschland.

Christian Werner

Nach fünfundzwanzig Jahren Deutschland beschliesst Kapitelmans autobiografischer Held, sein westliches Dasein zu legitimieren und einen Staatsbürgerschaftsantrag zu stellen. Auf dem Amt in Leipzig kollert ihm das freundliche Sächsisch von Frau Kunze entgegen, die nichts Geringeres als das Unmögliche verlangt: in Kiew eine neue Geburtsurkunde zu besorgen, die aber auch noch von den dortigen höheren Ämtern amtlich bestätigt sein muss.

Begegnung mit der Kindheit

Auf nach Kiew! Die Eltern zurücklassend, mit denen der Ich-Erzähler nicht mehr spricht, die aber in einer finsteren Fremde leben. Es gibt eine schwer kranke Schwester. Die Mutter hat sich in Leipzig ein Katzastan aufgebaut und umsorgt Dutzende Katzen, während ihr Mann vom einstmals Kiewer Unternehmer zum sächsisch-russischen Gurkenverkäufer heruntergewirtschaftet hat.

In Kiew verkürzen sich die Amtswege, indem man sich besser «entdankt» statt bedankt. Man steckt den Beamten Geld zu und hofft, dass die Sache nicht länger als zwei Monate dauert. Kapitelmans Alter Ego hat also Zeit in der ukrainischen Hauptstadt. Der Sohn der Stadt flaniert durch die Kindheitsviertel und durch einen ebenso bedrückend wie satirisch abgeschilderten Stillstand. Jede Veränderung wird vom Verfall zuverlässig überholt. Daran ändert auch der «Komikerpräsident» des Landes nichts. Es zählen Improvisation und der Staat im Staat: die Familie.

In Kapitelmans Geschichte gibt es frohe Onkeln und Tanten, die die Plattenbautristesse mit Wodka begiessen und sich im politikverlassenen Land in Gelassenheit üben. Sie halten zusammen, als die Geschichte mit der Geburtsurkunde in etwas ganz anderes kippt: in Todesgefahr. Der Vater hat zu Hause einen Schlaganfall erlitten. Er muss jetzt auch nach Kiew, weil er keine deutsche Krankenversicherung hat. Der Gang durch die dortigen Spitäler ist nicht weniger melancholisch als der durch die Ämter, aber der Vater entwickelt eine fidele Lebenslust, an der die Entfremdungsgefühle des Sohnes abprallen. Man findet wieder zueinander. Es ist eine Geschichte vom freundlichen Patriarchen, wie auch schon Dmitrij Kapitelmans erster Roman, «Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters». Dass am Ende die Mutter die Dritte im wieder aufgefrischten Bunde ist, komplettiert die Sache.

Vielleicht kippt «Eine Formalie in Kiew» zu sehr zwischen selbst Erlebtem und satirisch Überhöhtem hin und her. Einmal heisst es sehr ernst über die Familiengefühle: «Und doch ist heute alles anders zwischen uns. Trauriger, entfremdeter. Vielleicht liegt es daran, dass wir ein zweites Leben begonnen haben.» Schon das wäre wahrscheinlich ein Roman für sich. Die tragische Trauer all derer, die meinen, dass die Normalität jenseits der Grenze liege, dabei ist sie immer schon da. In den erprobten Gewohnheiten, die trotz widrigen Umständen so etwas wie Heimat ausmachen.

Es gibt noch ein anderes atmosphärisches Problem in Dmitrij Kapitelmans Buch, allerdings eines, das in der Literatur nicht selten vorkommt. Gerade bei Autoren seiner Generation. Die Grenzen zwischen den kulturellen und politischen Entitäten werden überwunden, aber es gibt auch eine biografische Linie: ein Davor und ein Danach. Nicht selten bleiben die Kindheiten auf diese Weise als gleichermassen magisches wie irreales Vorleben präsent. Sie verlängern sich in die Gegenwart des Schreibens, weil ihre Zeitzeugenschaft eben nicht nur privat, sondern auch an kollektive politische Erfahrungen gebunden ist.

Zahme Bosheiten

Die Literatur der Grenzüberwindungen ist voller Figuren, die sich mit dem Sternenstaub der Kindheit auch den roten Stern des kommunistischen Systems aus dem Mantel schütteln müssen. Das geht nicht immer ohne Kitsch oder Folklore ab, und dass Satire oft hilft, weiss man mittlerweile auch. Dmitrij Kapitelman hat sich für diesen Weg entschieden und riskiert in seiner neuen autobiografischen Geschichte sonst nicht allzu viel.

Die Bosheiten gegen das politisch nach rechts driftende Sachsen sind nicht allzu bohrend, und die pittoreske Planlosigkeit der Ukraine ist so beschrieben, wie man sie sich vielleicht ohnehin ausmalt. Wenn Kapitelmans Erzähler zwischen Desillusionierung und dem Wunsch nach Illusionen schwankt, dann ist er vielleicht genau jener Sohn, den die Eltern niemals ziehen lassen werden. Noch den Dreissigjährigen nennen sie «Igelchen» und «Häschen».

Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2020. 176 S., Fr. 30.90.

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