Reden wir doch erst einmal über Literatur: Es gibt ein ganz wunderbares Buch, das im Herbst erschienen ist und das wie so viele Bücher in der Monothematik der Pandemie ein bisschen unterging. Obschon es der Debütroman Triceratops des österreichischen Schriftstellers Stephan Roiss sogar aus dem kleinen Verlag Kremayr & Scheriau auf die Longlist des Deutschen Buchpreises schaffte, verzeichnet der Perlentaucher bis zum heutigen Tag nur zwei Rezensionen. Die Feuilletons waren wohl abgelenkt, wie ja alle ständig abgelenkt waren in diesen Zeiten des groß geschriebenen WIR von den Fragen, was WIR jetzt wissen müssen, wie WIR handeln sollen und was für UNS jetzt wichtig wird.

Dabei macht dieser Roman etwas, das vor dem Hintergrund der stetigen Behauptung einer schicksalhaften Gemeinschaft, eben dieses "Pandemie-WIR", durchaus interessant ist: Er erzählt im Plural das individuelle Unglück des namenlosen Erzählers, eines Kindes mit psychosomatischen Hauterkrankungen, labilen Eltern und einer düsterkatholischen Prägung. "Zum Begräbnis der Klaff-Großmutter mussten wir ein Hemd tragen, das einem Cousin, den wir kaum kannten, zu klein geworden war." So klingt das dann, wenn auch niemals eindeutig, weil sich die Haltung des Lesers zu diesem Erzähler-Wir stetig verändert: Glaubt man zu Beginn vielleicht noch, es handele sich um ein symbiotisches Zwillingspaar, bekommt das Wir bald eine majestätische Behauptung von Größe, die den Erzähler wie ein Panzer vor der Umwelt zu schützen scheint. Am Ende erscheint das Wir wie die fast einzige Möglichkeit des Erzählens über die eigene Kindheit in der Vergangenheitsform. Schließlich ist in jedem Moment des Textes sein Protagonist als Kind und Chronist doppelt präsent.

Triceratops verwischt so die Grenze zwischen Erzähler und Figur, das pandemische WIR verwischt derweil die Grenze zwischen Bürger und Staat. Für beide gilt: Man hört das WIR gar nicht mehr, wird es nur oft genug wiederholt. In der Pandemie wird das WIR zur Matrix, indem Politikerinnen es immer wieder bemühen, wenn es um den Seuchenschutz geht und wie er möglichst gut gelingen kann.

Sei es in der präsidialen Tröstung, sei es im dringlichen Appell der Kanzlerin, immer will dieses WIR dabei die Verantwortung an die Einzelnen weitergeben. Es ist damit nicht nur der hilflose Versuch, in der Krise an die mutmaßlich positiv besetzten Wirs der Vergangenheit anzuschließen, das "Wir sind wieder wer"-Wir etwa, das "Wir sind das Volk"-Wir, vielleicht auch das "Wir schaffen das"-Wir. Es markiert vor allem eine bewusst freigelassene Leerstelle in der politischen Verantwortung. Es will gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen, dass man eventuell mehr verlangen könnte als ein brüchiges Regelwerk, unter dem jede Woche Tausende Menschen sterben. Vielmehr ist die Behauptung dieses WIR eine untergründig feindselige: Wenn WIR das nicht hinbekommen, seid IHR schuld!

Das bedeutet nun gar nicht, dass die Einzelnen sich nicht bestenfalls verantwortungsbewusst verhalten sollten. Es bedeutet aber, dass gerade in einem Land mit Volksgemeinschaftsvergangenheit und einer sozial heterogenen Gegenwart das pandemische WIR mit Vorsicht zu gebrauchen ist. Immerhin behauptet es eine Grundidentifikation mit der Masse der Mitmenschen ebenso wie eine Vergleichbarkeit der Möglichkeiten über alle sozialen Schichten hinweg. Da muss sich dann die alleinerziehende Mutter in ihrem Homeoffice einfach etwas mehr anstrengen, um den wächsernen Empfehlungen zu genügen. Denn nur so ist sie natürlich ein guter Teil des WIR und kein Mängelwesen, das die anderen irgendwie mit durchschleppen müssen.

Man muss sich aber nicht als Teil einer Gemeinschaft begreifen, um eine gute Staatsbürgerin zu sein. Und es gibt keinen harmonischen Gesellschaftszustand, der sich mit "wir" treffend beschreiben ließe. Politik ist institutionalisierter Interessenkonflikt, und Politikerinnen sind nur privat Teil des Bevölkerungs-Wir – und niemals dann, wenn sie es politisch adressieren. Klare Regeln zu schaffen, ist Aufgabe der Legislative. Sie anzuwenden und durchzusetzen, ist Aufgabe der Exekutive. Regeltreue einzufordern, funktioniert unterdessen auch mit einem höflichen Sie in Vorbildfunktion: "Es ist wichtig, dass Sie sich an das halten, was wir beschlossen haben – und ich tue das selbstverständlich auch." Das klingt doch eigentlich ganz vernünftig.