Das Fernsehen ist doch zum Haare-Ausreissen. Sagt einer, der es wissen muss

Deutschlands berüchtigtster Theaterkritiker wollte es wissen: Er schaute tage- und nächtelang fern. Nun kann man nachlesen, wie es ihm ergangen ist.

Bernd Noack
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Der Bildschirm leuchtet, die Erleuchtung aber bringt er nicht.

Der Bildschirm leuchtet, die Erleuchtung aber bringt er nicht.

Christoph Ruckstuhl NZZ

Kann das gut gehen? Ein gestandener und honoriger Theaterkritiker, der sein halbes Leben im Parkett verbracht hat, setzt sich daheim in den Sessel – und schaut fern. Nachmittage und lange Abende verbringt er vor der Flimmerkiste, zappt sich durch Infoprogramme, ganze Serien, Diskussionsrunden, geisselt sich mit den Sätzen von Moderatoren, mit den Dialogfetzen von Kommissaren und Ärzten, lässt Satiriker ebenso über sich ergehen wie Politiker. Wenn er dann spätnachts ins Bett sinkt, erschöpft und zugedröhnt, ist aber nicht etwa wie im Theater der Vorhang gefallen: Was er gesehen, gehört und erlitten hat, geht ihm nun im Wachtraum nach, seine Augen kann er nicht schliessen, sein Hirn nicht abstellen: Dauerfernsehen geht nicht spurlos an einem vorbei.

«Deutschlandglotzen» nennt Gerhard Stadelmaier, einer der bekanntesten deutschen Theaterkritiker und bis zum Ruhestand für die «FAZ» zu allen grossen Bühnen unterwegs, seinen Essay, für den er freiwillig «ganze Tage vor dem Fernseher» zubrachte. Er hat es sich gegeben, gnadenlos. Er hat sich gefragt, wen man da überhaupt einlädt, wenn man fernsieht, was man unbestellt geliefert bekommt für die «Zwangsabgabe» (Rundfunkgebühren), womit sich die Menschen durchschnittlich 221 Minuten am Tag (Erhebung von 2018) informieren und unterhalten, ja, jetzt in öden Corona-Zeiten («Deutschlandguck-Quarantäne») wohl vor allem ablenken lassen. Freilich hat er weniger gefragt, was in den Köpfen der Dauerkonsumenten vorgeht, wenn nicht gar stillgelegt wird; er kann seine Profession nicht verleugnen und geht also sein Thema vom Standpunkt des Rezensenten aus an, dem die Welt schon immer eine einzige Bühne war, der auf der Bühne sah, was die Welt zusammenhält beziehungsweise aus dem Leim gehen lässt.

Laufsteg der Eitlen

Und siehe da: So verschieden ist das gar nicht vom öffentlichrechtlichen Fernsehen! Naturgemäss zitiert er im Rahmen seiner mitunter ätzenden Analyse Ibsen und Schiller und Shakespeare sowieso herbei, wenn er die Bildschirm-Protagonisten auf ihren Sinn und Zweck hin untersucht. Anne Will etwa gleiche «in Allüren und Zuschnitt» den Königinnen in den Dramen des Engländers, weil sie «scheinbar nur an der Seite der Mächtigen» grösser wird, denen sie wiederum ungeniert ihre Grösse und Macht jederzeit demonstrieren kann. Shakespeare tauge halt für alle Bretter, meint Stadelmaier, also auch für die Fernsehbühne.

Solche Ausflüge in die Hochkultur leistet sich der Analyst indes im tiefen Tal der Einschaltquoten nur ab und zu. Stadelmaier will sich nicht arrogant aufspielen, quasi aus der noblen Loge herabblicken auf das Grauen, das sich vor seinen Augen durchaus auftut. Er seziert vielmehr mitunter kreuzkomisch, stets provozierend garstig das üppige Angebot und lässt die Personen, die sich alltäglich in das bunte Viereck daheim drängen, auf- und durchmarschieren, wie sie sich präsentieren in ihrer Eitelkeit, mit der gepachteten Deutungshoheit und mit den Allüren, die sie zu Stars, zumindest auf der «Plattform der Nation», machen: Das Fernsehen müsse nur pfeifen, und diejenigen, nach denen gepfiffen werde, fingen «sofort an, wenn nicht gerade zu tanzen, aber doch rhetorisch halbwegs zu parieren».

Dieses «halbwegs» schreckt den Beobachter auf, diese auf Präzision geeichte technische Maschinerie, die dann doch nur das Hohle und Banale, die Duzerei und Anbiederung, die Missachtung jeglicher Intimität, Warn-Mantras in der Werbung («Zu Risiken und Nebenwirkungen . . .»), den inszenierten Streit und das ewige Wiederkäuen längst bekannter Tatsachen hervorbringt. Die Diskussionsrunden nennt Stadelmaier Stuhlkreise, die Moderatorinnen Gouvernantentanten, das Morgenmagazin «MoMa» reimt sich für ihn auf Oma, wo es hart und fair zugehen sollte, ist nur eine «Mitmachveranstaltung» mit Offenbarungs- und Bekenntniszwang zu beobachten, der sich «scherzhaft unverbindlich maskiert».

Infotainment mit einem Informationsgehalt, der gegen null tendiere, sei nah an der Theaterschmiere. Denn das Fernsehen sei eben keinesfalls die «Gegenwartismus-Maschine», für die es immer gehalten wird, «es ist viel mehr und intensiver eine Repetitionsmaschine, für die eine Wiederholung das Lebens- und Daseinsprinzip ist.» Also dann weg von den muffigen Diskussionssofas und lieber gleich hinein in die Vorabendserien, ins Präsidium oder in den OP-Saal, ins Hotel oder in die geschönte Natur, wo für Stadelmaier das Versprechen des Fernsehens, das pure Leben mit Fallhöhen und Abgründen, mit Wahrheit und längst Geahntem zu zeigen, viel ehrlicher eingelöst wird.

Das tägliche Mordkonzert

Hier wie dort aber finden sich Sätze, «die wie Blechabfall einer Sprachstanzerei» wirken. Doch in den Endlosreihen des Todes- und Kliniktheaters donnert für den Kritiker die Dramatik erst richtig. Genüsslich und mit einem bemerkenswerten Drang zur Pedanterie lässt er die unübersehbare Phalanx der Dramatis Personae aufmarschieren, folgt den zum Haareraufen verknäulten Handlungssträngen, lehnt sich zurück im allabendlichen «Mordkonzert» und lauscht wie am Lagerfeuer den abenteuerlichen Geschichten, die immer weitergehen, gleichwohl das Handeln in ihnen keinen Sinn hat, «nur noch eine Funktion: das Fortschreitenmüssen».

Endlich ist es Nacht geworden, auch bei Gerhard Stadelmaier im Wohnzimmer. Auf dem Bildschirm erscheint schon lange kein erlösendes Testbild mehr. Aber, schreibt er fast versöhnlich, «man sollte nicht alles haben wollen. Besonders nicht im Fernsehen.»

Gerhard Stadelmaier: Deutschlandglotzen. Ganze Tage vor dem Fernseher. Zu-Klampen-Verlag, Springe 2020. 200 S., Fr. 26.90.

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