Als ich meinen ersten Buchvertrag unterschrieben hatte – in Köln, im Sommer 1989, 7000 Mark für ein paar Geschichten –, schenkte mir Helge zum Abschied die dunkelblaue Joseph-Roth-Werkausgabe, die gerade bei Kiepenheuer & Witsch erschienen war. "Du wirst Roth lieben", sagte Helge, "er war Journalist und Schriftsteller, so wie du." "Bin ich auch schon ein Schriftsteller?", sagte ich. "Mal sehen", sagte Helge ernst, und dann lächelte er, so wie er bis heute lächelt, halb Junge, halb Mann.

Wieder in München, begann ich sofort, Joseph Roth zu lesen. Aber ich mochte ihn nicht. Hiob war mir zu pathetisch, und beim Radetzkymarsch langweilte ich mich wie bei Fontane. Wenn ich so ein Schriftsteller wie Joseph Roth werde, dachte ich, während ich die sechs schweren, dunkelblauen Bände in die zweite Reihe meines Bücherregals schob, habe ich ein Problem.

Einunddreißig Jahre später saßen Helge und ich – es war kurz vor dem zweiten Lockdown – in der Joseph-Roth-Diele in Berlin, in der Potsdamer Straße. Draußen war es schon dunkel, es regnete den ganzen Tag, und wir redeten über den besten Roman, den ich seit Langem gelesen hatte: Rechts und links von Joseph Roth. So etwas kannte ich noch nicht auf Deutsch: dass ein Schriftsteller vom Alltag, von der Politik, von kapitalistischen Intrigen und sozialistischen Träumen so poetisch erzählte wie andere von Liebe und Tod. Die Story war aber auch ziemlich aufregend: Zwei Brüder aus einer alten, wohlhabenden Familie – Paul und Theodor Bernheim – erleben das Ende des Kaiserreichs, den ersten großen Krieg des letzten Jahrhunderts, die vielen kleinen deutschen Revolutionen und Gegenrevolutionen, die Inflation von 1923. Sie verlieren alles, ihren Optimismus, ihr Geld, ihren Stolz, und es ist ausgerechnet ein jüdischer Aufsteiger aus dem Osten, der sie wieder einigermaßen glücklich macht, der Fabrikbesitzer und Immobilienhändler und ehemalige Bolschewik Nikolai Brandeis, dem über Nacht plötzlich halb Berlin gehört.

"Ein genialer Roman", sagte Helge. "Warum?", sagte ich. "Weil jeder in diesem Buch Macht will – und sie nicht hat. Weil es immer jemanden gibt, der mächtiger ist als er selbst." "So wie im richtigen Leben?" "Genau." Helge grinste mal wieder sehr klug und sehr jugendlich, und noch während er sprach, sah ich an ihm vorbei und betrachtete die vielen gerahmten Fotos von Joseph Roth, die hinter ihm an der holzgetäfelten Wand hingen. Roth mit Schnurrbart, Roth ohne Schnurrbart, Roth noch ganz jung und gesund, Roth mit traurigem Alkoholikergesicht kurz vor seinem Tod. Sein Blick war aber immer gleich: freundlich, ohne weich zu sein, streng, aber nie böse oder gemein.

"Ja, stimmt", sagte ich langsam. "Aber?", sagte Helge. "Aber da ist noch mehr", sagte ich. "Jeder in diesem genialen Roman über Macht und Machtlosigkeit ist verrückt, verwirrt, nicht mehr er selbst. Paul will im Krieg für den Kaiser sterben und ist Pazifist. Theodor hilft den Rathenau-Attentätern und liebt Stirner und Marx. Und Brandeis ist Kommunist, dann Kapitalist, und zum Schluss wird er wahrscheinlich Buddhist." "Ja", sagte Helge, "du hast auch recht." "Rechts und links, links und rechts, verstehst du?!", rief ich aus. Dann sagte ich leise: "Das ist völlig irre, das ist genauso wie heute: Die linken Identitätsfetischisten sind die schlimmsten Rassisten, die rechten Kubitschek-Parvenüs kopieren wie Streber in kurzen Hosen das liberale Feuilleton, und Henryk Broder hält eine gut gelaunte Rede vor der AfD-Bundestagsfraktion." "Ich weiß, dass du das denkst", sagte Helge ernst, und diesmal blieb er es auch. "Und ich weiß, dass du das weißt", sagte ich, "aber wusstest du auch schon, dass ich darüber meinen nächsten Roman schreiben will?" "Klar", sagte Helge, und jetzt lächelte er endlich wieder, "ich kenne dich fast schon so lange wie du dich selbst."

Als wir eine halbe Stunde später zahlten – der Abend war jetzt so schwarz wie die Nacht, und es regnete immer noch –, sah ich mich ein letztes Mal im Restaurant um: An fast allen Wänden hingen Joseph-Roth-Fotos und Joseph-Roth-Karikaturen, und in den Regalen lagen in kleinen Stapeln seine Bücher, die man kaufen konnte. Auf der Bar standen zwei alte Lampen mit vergilbten Schirmen, die Tische waren weiß gedeckt, die Stühle waren wie echte Kaffeehausstühle klein und trotzdem bequem und aus dunklem Holz, und obwohl ich wusste, dass es das alles hier noch gar nicht so lange gab, erst seit Mai 2002, hatte ich, wie immer, wenn ich hier war, ein schönes, warmes, erregendes Zwanzigerjahre-Gefühl.

"Weißt du noch", sagte ich zu Helge, während wir draußen im Regen standen und ich die erste Zigarette des Tages rauchte, "wie du damals zu mir gesagt hast, ich würde Joseph Roth lieben?" "Nein", sagte Helge, "leider nicht." "Es hat ein bisschen gedauert", sagte ich, "aber du hast wie immer recht gehabt."