Kurzzeitig war ein anderes China denkbar

Nach Maos Tod hat sich China intensiv mit politischen Verbrechen und Fragen historischen Unrechts beschäftigt. Trotzdem ist eine tiefgreifende Transformation ausgeblieben. Der Sinologe Daniel Leese erklärt, warum.

Helwig Schmidt-Glintzer
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Er bleibt präsent: Sicherheitskameras vor einem Mao-Porträt in Peking, 2017.

Er bleibt präsent: Sicherheitskameras vor einem Mao-Porträt in Peking, 2017.

Damir Sagolj / Reuters

Der rasante Aufstieg Chinas und die Verfolgung des «chinesischen Traums» haben die Zeit der Kulturrevolution und den Terror der Roten Garden scheinbar in weite Ferne gerückt. Unterschwellig aber wirkt das in jener Zeit im Namen staatlicher Stellen begangene Unrecht fort. Auch die mehr als 32 Millionen Hungertoten während des Grossen Sprungs in den Jahren 1958 bis 1961 sind nicht wirklich vergessen. Dabei hat sich die Volksrepublik China im unmittelbaren Gefolge des politischen Führungswechsels nach dem Tode Mao Zedongs am 9. September 1976 so intensiv und grossflächig mit Fragen historischen Unrechts beschäftigt wie kaum ein anderer Staat in ähnlicher Lage.

Der im Dezember 1978 beschlossene politische Kurswechsel, der zum Wirtschaftswunder der folgenden vier Jahrzehnte in China führen sollte, war verbunden mit einem «Prozess der ideologischen, administrativen und gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem Erbe der maoistischen Herrschaftsperiode». Warum diese Zeit dennoch weiterhin einen langen Schatten bis in die Gegenwart wirft, entfaltet der Freiburger Sinologe Daniel Leese nach der Sichtung einer Vielzahl bisher unbekannter Quellen.

Leese schildert die besonderen Formen des Umgangs mit der Vergangenheit in China in den zehn Jahren zwischen dem Tod Mao Zedongs und 1987, als die Säuberung der Partei von kulturrevolutionären Tätern offiziell für abgeschlossen erklärt wurde. Dabei werden die Verbrechen selbst und die unterschiedlichen Phasen der Zeit der Kulturrevolution noch einmal aufgerufen. So vergegenwärtigt das Buch die schrecklichen Ereignisse im Lichte einer früh mit grossem Aufwand betriebenen «Übergangsjustiz» und zeigt zugleich, wie eine politische und vor allem juristische Aufarbeitung dieser politischen Verbrechen angesichts der hohen Opferzahlen der «spätmaoistischen Kampagnen», des erwähnten Grossen Sprungs und der Kulturrevolution mit über 100 Millionen politisch Verfolgten, für einen Neuaufbruch unumgänglich war.

Die Parteiinteressen obsiegen

Tatsächlich revidierten zwischen 1976 und 1987 Parteiorgane und Gerichte Millionen von politischen Bewertungen und juristischen Urteilen. So beeindruckend diese Suche nach Gerechtigkeit und die in die Hunderttausende gehenden Fälle von Rehabilitationen, Entschädigungen und Neubewertungen waren, so fanden sie ihre Grenze doch dort, wo das Monopol der KP Chinas hätte infrage gestellt werden müssen. Die Analyse dieser Grenze, an der sich das System einer weiteren Transformation verweigerte, ist gewissermassen der Fluchtpunkt der Analysen dieses für ein Verständnis der neueren Geschichte Chinas so grundlegenden Buches.

Daniel Leese geht davon aus, dass nach Mao Zedongs Tod «kurzzeitig ein anderes China denkbar» war, und rechnet es dann dem Interesse der Partei an Machterhalt zu, dass eine grundlegende Transformation des politischen Herrschaftsmodells nicht ins Werk gesetzt wurde. Stattdessen führte die offiziell eingeführte Unterscheidung zwischen Fehlern der Partei einerseits und Verbrechen einer konterrevolutionären Bande andererseits dazu, dass die mit dem Beginn der Aufarbeitung der Verbrechen der Kulturrevolution und der Anklage der Viererbande geweckten Erwartungen schliesslich enttäuscht wurden. Mit der Niederschlagung der Proteste der Demokratiebewegung im Frühsommer 1989 habe dann die Partei endgültig die Möglichkeit verworfen, ihre Herrschaft auf eine alternative Legitimationsgrundlage zu stellen.

Das Motto, welches die Entschädigung der Opfer und die Bestrafung der Täter begleitete, «Das Chaos beseitigen und die korrekte Ordnung wiederherstellen», spiegelt die Ambivalenz der Partei, die dann letztlich doch Machtpolitik vor Gerechtigkeit stellte. Dies vielleicht auch, weil die zu Beginn des Buches zitierte Forderung Deng Xiaopings von 1978 weiterhin galt, die «Gesamtsituation» im Auge zu behalten und als allein entscheidendes Kriterium gelten zu lassen, «ob China stabil ist oder nicht».

Ein Beispiel bleibender Treue

Erhellend ist hier auch der Fall des Pekinger Bürgermeisters Peng Zhen. Dieser ist als prominenter Vertreter des Rechtswesens nach 1966 von Rotgardisten attackiert und mit einem Schandhut durch die Strassen Pekings getrieben worden. Bereits 1980 hält Peng Zhen jedoch, inzwischen fast achtzig Jahre alt, beim Prozess gegen die «kulturrevolutionären Cliquen» der Viererbande und Lin Biaos eine Rede. Sie wird landesweit als Schulungsmaterial verbreitet und sollte demonstrieren, dass die Jahre der Willkürherrschaft der Vergangenheit angehören.

Dieser Peng Zhen ist der Typus jener zeitweise von der Partei marginalisierten eigenen Elite, die nach ihrer Rehabilitierung wieder für höchste Ämter zur Verfügung standen. Seine bleibende Treue zur Partei stellte Peng Zhen auch dadurch unter Beweis, dass er einige Jahre später an vorderster Front derer stand, welche die mit dem Aufmarsch von Panzern verbundene Niederschlagung der Studentenproteste am Tiananmen rechtfertigten. Auch hierin zeigen sich Parallelen zum Fall Deng Xiaoping.

Der Blick auf die Kulturrevolution und die nachträglichen Umdeutungen der Ereignisse durch die Partei eröffnet Einsichten. Er zeigt die Tiefenstrukturen der chinesischen Gesellschaft und ihren Umgang mit Verbrechen des Staates. Daniel Leese schöpft aus jahrelanger Dokumentenrecherche; seine Darstellung versteht es dabei meisterhaft, zweierlei zu verbinden: Die Beschreibung von Einzelschicksalen und die Analyse der «Übergangsjustiz». Diese ist für jede politische Transformation unausweichlich und im Falle Chinas von besonderer Bedeutung. Die weitere Entwicklung Chinas ist ohne sie nicht zu verstehen.

Daniel Leese: Maos Langer Schatten. Chinas Umgang mit der Vergangenheit. Verlag C. H. Beck, München 2020. 606 S., Fr. 53.90.