Die Menschen leben in einem riesigen Labor. Draußen scheint die Welt untergegangen zu sein, die Erde ist unbewohnbar. So genau weiß aber niemand, was passiert ist. Die meisten Leute in dem seltsam artifiziellen, immerhin geschützten Bereich, sie arbeiten rund um die Uhr und werden nahezu überall von einem visuellen Erkennungssystem namens Red Eccles überwacht.

Während in George Orwells 1984 mit dem Großen Bruder noch eine übermenschliche und an Stalin erinnernde Gestalt die Bevölkerung in Schach hält, hat in Raphaela Edelbauers neuem Roman die Technik die Kontrolle übernommen. DAVE heißt der titelgebende Megacomputer, um den sich in der strengen Klassengesellschaft alles dreht. Je näher die Arbeit am Zentralrechner, desto höher die Position im Laborgefüge. Es gibt zwar Gewerkschaften, aber die haben nichts zu sagen. Mindestens 4.000 Programmierer tüfteln an sogenannten Scripts, an "Basiskompetenzen der Sprach- und Kommunikationsfertigkeit", auf dass DAVE einmal schlauer wird als die klügsten Laboranten, die offensichtlich meinen, eine künstliche Generalintelligenz könne sie retten, vielleicht sogar die verwüstete Restwelt erneut bewohnbar machen.

Auch IT-Spezialist Syz hat sich DAVE verschrieben. Was ihn aber nicht davon abhält, im entscheidenden Moment eigene Wege zu gehen. So auffällig das auch sein mag, aber Red Eccles drückt in seinem Fall offenbar nicht nur ein rotes Auge zu. Jedenfalls verliebt sich Syz in die Ärztin Khatun Mnajouri, die bemerkt, dass dieser Computernerd anders spricht als der gewöhnliche Programmierer. "Ich führe mir abends meine Dosis Weltliteratur zu", erklärt der junge Mann etwas schüchtern. "Dostojewski oder Proust, Nabokov solche Dinge. Als eine Art Exorzismus."

Keine Perfektion ohne Fehlfunktion

Der indirekte Verweis auf Ray Bradburys Roman Fahrenheit 451, der von einem Staat handelt, in dem es als Verbrechen gilt, Bücher zu besitzen oder sie zu lesen, ist kein Zufall. Die 1990 in Wien geborene Raphaela Edelbauer hat sich nicht nur in die Theorie und Wissenschaft künstlicher Intelligenz eingearbeitet, sie kennt sich auch aus in den Klassikern der Science-Fiction-Literatur. Sie spielt mit den Grundelementen berühmter Dystopien und entwickelt zugleich eine eigene Düstervision der Zukunft, sozusagen eine DAVE-Variante des literarischen Pessimismus. Aldous Huxleys Schöne Neue Welt basiert auf der Manipulation der Embryonen, mentaler Indoktrination der Kleinkinder, Dauerkonsum der Erwachsenen und der Verblödungsdroge Soma. Die Herrschaft der digitalen Technik in DAVE wirkt deutlich fragiler, gleichzeitig wesentlich perfider.

Doch keine Diktatur ohne Widerstand. Keine technische Perfektion ohne Fehlfunktion. Die "solide Eindeutigkeit der Laborhierarchie" schlägt für eine kurze Zeit in Chaos um, als die "Temperatur in den Anlagen" um 30 Grad steigt und die Serverfarmen teilweise stillgelegt werden müssen. Ein solcher Ausfall zeigt einerseits die Schwäche des Systems, kann aber auch, wie Syz ahnt, zur Disziplinierung und Optimierung genutzt werden. Und Syz erhält eine neue Aufgabe, als er plötzlich vor DAVE steht, der leider noch imperfekten Maschine, und die Hohepriester der Hightech-Zentrale, die Professoren Fröhlich und Blumenthal, ihn zum Mitglied einer geheimen Forschungsgruppe erklären, ihm mitteilen, die fehlende Kompetenz der kontrollierenden Vernunft werde nun nach seinem Vorbild modelliert: "Sie und DAVE müssen eins werden. Das ruft Neider und Saboteure auf den Plan. Also arbeiten wir stets nachts, stets dezent, stets geräuschlos."

Es ist ein Angebot, das Syz nicht ablehnen kann. Es interessiert ihn wirklich, mitverantwortlich zu sein für die "erste urteilsfähige, kreativ denkende Maschine der Menschheitsgeschichte". Dafür soll Syz der Maschine aus seinem Leben erzählen. Doch die Erzählungen, die etwa von einem überehrgeizigen und gewalttätigen Vater handeln, werden schon bald zum Problem: Die Biografie des Auserwählten sprengt immer wieder den vorgegebenen Programmrahmen. Während Syz sich intensiv mit seiner Herkunft und Identität beschäftigt, wächst seine Skepsis gegenüber dem Projekt. Er hat zunehmend mit dem verwirrenden Gefühl zu kämpfen, sich in unterschiedlichen Zeitachsen und verschiedenen Rollen zu bewegen: "Als ich Kathun Mnajouri zum ersten Mal roch, geschah etwas, das mir nie zuvor widerfahren war. Ich erinnerte mich wohl an etwas – doch nicht an etwas Geschehenes, sondern an die Zukunft; ihr Duft war ein Versprechen auf etwas, das ich noch mühselig an die Oberfläche zu zerren versuchte."