Die Oper überwindet den Eisernen Vorhang

Das Musiktheater in der DDR hat dem westlichen Opernleben Impulse gegeben, die bis heute weiterwirken; gleichzeitig wurde es bis 1989 politisch instrumentalisiert. Eckart Kröplin versucht die Widersprüche ideengeschichtlich aufzuarbeiten.

Marianne Zelger-Vogt
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«So werf ich den Brand in Walhalls prangende Burg»: Schlussszene aus Richard Wagners «Götterdämmerung» in der Leipziger Inszenierung von Joachim Herz, 1976.

«So werf ich den Brand in Walhalls prangende Burg»: Schlussszene aus Richard Wagners «Götterdämmerung» in der Leipziger Inszenierung von Joachim Herz, 1976.

Helga Wallmüller / Oper Leipzig

Karfreitag 1976: Zu dritt fahren wir im Auto Richtung Leipzig. Irgendwann, schon auf DDR-Gebiet, schalten wir das Radio ein und bekommen die Nachrichtensendung des DDR-Rundfunks zu hören. Eine der ersten Meldungen informiert darüber, dass im Opernhaus von Leipzig an diesem Abend mit «Rheingold» der «Vorabend» von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» in der Regie von Joachim Herz zur Aufführung gelange und dass zu dieser ersten zyklischen Wiedergabe seiner Interpretation auch Besucher aus dem «westlichen Ausland» erwartet würden.

Beides, der Hinweis auf das bevorstehende Opernereignis wie die Erwähnung westlicher Besucher, erscheint symptomatisch für die prominente Stellung, die das SED-Regime der Kultur als Medium nationaler Identität und internationaler Reputation beimass. Herz’ Deutung der Tetralogie aus ihrer Entstehungszeit und aus sozialkritisch- antikapitalistischem Geist gilt bis heute als Meilenstein in der «Ring»-Rezeption. Sie wurde allerdings bald durch den in seiner Zielrichtung weitgehend identischen Bayreuther «Jahrhundert-Ring» Patrice Chéreaus, dessen publizistische Resonanz ungleich grösser war, in den Schatten gestellt.

Ideologie und Ökonomie

Neun Jahre später wird in Dresden die Semperoper wiedereröffnet – am 40. Jahrestag ihrer Zerstörung 1945 und selbstredend in Anwesenheit des Staats- und Parteichefs Erich Honecker. Jahrzehntelang war zuvor diskutiert worden, ob die Ruine als Relikt monarchischer Zeiten abgetragen, ein Neubau errichtet oder das Haus mit Veränderungen wiederaufgebaut werden sollte, bis man eine originalgetreue Rekonstruktion beschloss. Mit Webers «Freischütz» stand damals jene Oper auf dem Programm, die als letzte vor der Proklamation des «totalen Krieges» gespielt worden war.

Auch die zweite Eröffnungspremiere, Richard Strauss’ «Rosenkavalier», wie der «Freischütz» von dem inzwischen als Chefregisseur nach Dresden versetzten Joachim Herz inszeniert, berief sich explizit auf die grosse Vergangenheit des Hauses: Hier hatte das Werk 1911 seine glanzvolle Uraufführung erlebt. Erst an den zwei folgenden Tagen kamen mit Udo Zimmermann und Siegfried Matthus zwei prominente zeitgenössische DDR-Komponisten mit neuen Bühnenwerken zu Gehör.

Anders als Herz’ Leipziger «Ring» setzten seine Dresdener Eröffnungspremieren keine künstlerischen Wegmarken. Wohl aber stand der Wiederaufbau des einstigen Königlichen Opernhauses für eine Neuausrichtung der Kulturpolitik des SED-Regimes. Die Semperoper sollte nun nicht mehr nur dem Ansehen des kleinen Landes, sondern als Wirtschaftsfaktor auch der Devisenbeschaffung dienen und Dresden wieder zu einem internationalen Opernzentrum machen.

Um den erwarteten Besuchern aus dem Westen eine Unterkunft von gehobenem Standard bieten zu können, wurde am Elbufer um ein erhalten gebliebenes barockes Bürgerhaus das Hotel Bellevue erbaut, in dem man ausschliesslich in harter Währung bezahlen konnte. Telefonüberwachung und versteckte Abhöranlagen waren im Zimmerpreis inbegriffen. Im hoteleigenen Intershop gab es gegen Devisen auch das begehrte Meissner Porzellan und Antiquitäten zu kaufen. Die Dresdner Bürger waren bloss als Zaungäste geduldet.

Künstlerisches Potenzial

Der Leipziger «Ring» und die Wiedereröffnung der Semperoper waren zwei Höhepunkte in der Geschichte des Musiktheaters der DDR – wie auch im Berufsleben der hier Rückschau haltenden Zürcher Journalistin, die diesen Ereignissen als Berichterstatterin beiwohnte. Doch sie waren keine Solitäre, vielmehr entsprossen sie einer Musik- und Theaterlandschaft von erstaunlicher Vielfalt und Fruchtbarkeit.

Fast fünfzig Opernbühnen wurden in der DDR regelmässig bespielt – wie in Westdeutschland ein Erbe der einstigen Kleinstaaten mit ihren Residenzen und Hoftheatern. Der Musikwissenschafter Eckart Kröplin, der als Dramaturg und Dozent selber teilhatte am Operntheater der DDR, hat dessen Geschichte nun in ihren Grundzügen wie in ihren Verästelungen aufgearbeitet.

Den zeitlichen Raster seines Buchs bilden die entscheidenden politischen Weichenstellungen: die Nachkriegszeit in der sowjetischen Besatzungszone, die kulturell geprägt war von einer wahren Theatereuphorie; die Staatsgründung 1949, der Volksaufstand von 1953, der Bau der Mauer 1961 und die allmählichen Lockerungen des Zwangssystems bis zur Wende von 1989 und zur deutschen Wiedervereinigung im folgenden Jahr.

Die geografischen Schwerpunkte setzen die Städte Berlin mit der repräsentativen Staatsoper und der von Walter Felsenstein geprägten, für lange Zeit stilbildenden Komischen Oper, Leipzig mit dem 1960 eröffneten neuen Opernhaus und Dresden, wo bis zum Wiederaufbau der Semperoper im Grossen Haus des Staatstheaters gespielt wurde. Aber auch in der «Provinz» gab es, nicht zuletzt dank Besucherorganisationen und in Ermangelung eines breiten Unterhaltungsangebotes, ein blühendes Opernleben.

So profilierten sich Dessau mit seinen Wagner-Festwochen und Halle mit seinen Händel-Festspielen. Doch in den Zentren wie in den kleineren Städten war es ein ständiges Ringen um künstlerische Freiräume gegen den Widerstand der Parteidoktrin, das sich auch in Fachpublikationen und Kongressen niederschlug: eine Gratwanderung zwischen staatlicher Förderung und Verhinderung. Dass Produktionen aus ideologischen Gründen nach wenigen Vorstellungen abgesetzt oder unmittelbar vor der Premiere untersagt wurden, war gängige Praxis.

Internationale Ausstrahlung

Der Aufbau von Kröplins Buch wird der Fülle des Materials leider nicht immer gerecht, es gibt Überschneidungen und Wiederholungen, anderseits ist der ästhetische Anteil der Bühnenbildner an den Inszenierungen deutlich untergewichtet. Insgesamt gilt Kröplins Augenmerk mehr dem ideellen Diskurs als dem sinnlichen Eindruck des Bühnengeschehens. Zu wenig thematisiert werden die negativen Begleiterscheinungen des Opernlebens in der DDR: das Spitzelwesen der Stasi, die unglaublichen Privilegien, die Spitzenkünstler etwa mit der Berechtigung zu unkontrolliertem Grenzübergang genossen, aber auch die Devisenbeschaffung mittels international gefragter Künstler.

Solche gab es in allen Sparten des Musiktheaters: Komponisten, Librettisten, Szenografen, Dirigenten, Sänger – neben Peter Schreier und Theo Adam seien auch die Tschechin Ludmila Dvořáková und die Bulgarin Anna Tomowa-Sintow genannt, die über Engagements in der DDR auf die grossen Bühnen des Westens gelangten. Manchen dieser Interpreten dienten die Bayreuther Festspiele, bei denen auch Musiker der renommierten DDR-Orchester mitwirkten, als Brückenkopf.

Vor allem aber waren es Regisseure wie Götz Friedrich, Harry Kupfer, Ruth Berghaus und Peter Konwitschny, die dem Musiktheater in ganz Westeuropa mit intellektuell anspruchsvollen Werkdeutungen neue, bis heute nachwirkende Impulse verliehen. Dreissig Jahre nach der Wiedervereinigung setzt Kröplins Buch dem Operntheater im untergegangenen zweiten deutschen Staat ein eindrückliches Denkmal.

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Eckart Kröplin: Operntheater in der DDR. Zwischen neuer Ästhetik und politischen Dogmen. Verlag Henschel, Leipzig 2020. 358 S., Fr. 39.90.

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