Die Schwiegermutter soll ins Pflegheim. Wie aber sie davon überzeugen? Vor allem, wenn sie plötzlich abhaut

Eine störrische Neunzigjährige steht im Zentrum eines Romans, mit dem Margaret Laurence kanadische Literaturgeschichte geschrieben hat.

Jan Wilm
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Nicht mehr alles selber können, kann einen unerträglich dünken. (Frau bei einer Gleisbaustelle am Paradeplatz, Zürich im Mai 2016)

Nicht mehr alles selber können, kann einen unerträglich dünken. (Frau bei einer Gleisbaustelle am Paradeplatz, Zürich im Mai 2016)

Ennio Leanza / Keystone

Die grosse Margaret der kanadischen Literatur! Die meisten denken an Margaret Atwood. Doch bedeutender für die kanadische Literatur des 20. Jahrhunderts war eine Schriftstellerin, die einen anderen Nachnamen trägt. Margaret Laurence (1926–1987) schrieb auf kompromisslose Weise über die Einengung durch das Dorfleben.

Die Prärie Kanadas wurde dabei zu einem Ort universeller literarischer Themen, und immer stellte Laurence starke Frauenfiguren in den Mittelpunkt ihres aussergewöhnlichen Werks. In fünf Romanen und zwei Erzählbänden perfektionierte sie ihr lyrisches Gespür für Orte und ihr Auge für die Schrullen und die Liebenswürdigkeiten der dort lebenden Menschen in einer bald zart elegischen, bald fiebrig erzürnten Sprache.

Die Last der Abhängigkeit

Von Monika Baark vorzüglich neu übersetzt, ist nun endlich wieder Laurence’ dritter Roman, «Der steinerne Engel» (1964), verfügbar. Darin entwarf die Autorin ihren eigenen literarischen Kosmos, der Schauplatz aller folgenden Fiktionen sein sollte: das Dorf Manawaka. Wie William Faulkners Yoknapatawpha seiner Heimat nachempfunden war, ist Manawaka eine hauchfeine Verschleierung von Laurence’ Heimatort Neepawa in Manitoba.

Die vielleicht irritierendste Bürgerin von Manawaka ist die hochbetagte Hagar Shipley. 90-jährig, senil, launisch, dabei unverbesserlich lebenslustig, ist sie der flimmernde Fixstern von «Der steinerne Engel». Die gebrechliche Hagar wird von ihrem Sohn Marvin und dessen Frau Doris umsorgt – seit fast zwei Jahrzehnten: «Siebzehn Jahre wiegen schwer wie Jahrhunderte. Wie habe ich das bloss ertragen? Wie haben sie es bloss ertragen?»

Da Doris mit der Sorge für ihre quengelnde Schwiegermutter überfordert ist, steht die schwierige Aufgabe an, Hagar in ein Pflegeheim umzusiedeln – und sie von der Notwendigkeit dieses Schritts zu überzeugen. Bald berührend, bald komisch untersucht Laurence die Widrigkeiten der Kommunikation innerhalb einer Familie; dabei entblättert sie kunstvoll die zwei Hauptmotive des Romans: dasjenige der Sorge und das der Würde. In der Figur von Hagar sind beide kurzgeschlossen. Denn die Neunzigjährige weiss: Auf Sorge ist sie angewiesen, doch trotz ihrer Demenz beobachtet sie gestochen scharf, welche Würdelosigkeit diese Abhängigkeit mit sich bringt.

Freiheit heisst Verlust

Als schlüge die Figur den beiden Motiven ein Schnippchen, erkämpft sich Hagar kurzerhand einen Augenblick der Selbständigkeit zurück, indem sie eines Tages wie ein Kind einfach abhaut. Hagar sucht den Ort auf, wo sie lebte, nachdem sie Manawaka, ihren Ehemann Bram und ihren Sohn Marvin verlassen hatte, um mit ihrem anderen Sohn John ein neues Leben zu beginnen. «Es war ein windstilles Leben, das wir dort führten, eine Zeit des Wartens und Pausierens.»

Eine Auszeit vom Sterben, das ist es, was Hagar sucht. Was sie findet, sind die Ruinen einer alten Zeit und die Fluten der Erinnerung. Doch über ihrem Begehren, zu flüchten, hat sie vergessen, wie sie wieder zurückgelangen soll. Plötzlich völlig erschöpft, betritt sie das erstbeste verlassene Haus und schläft ein.

Schlafend und wachend driftet Hagar ab ins Damals, und Laurence überblendet den Stillstand nach der Flucht mit Hagars Erinnerungen. Darin ist die Flucht auch mit Verlust verbunden. So bedeutet die Befreiung von ihrem groben Ehemann Bram auch die Trennung von ihrem Sohn Marvin, und das Weggehen endet in einer langsame Entfremdung von ihrem geliebten Sohn John. Dieser kehrt schon bald zu seinem Vater und dem Bruder nach Manawaka zurück, wo Hagar ihn ganz verliert.

In einer der bewegendsten Szenen in Laurence’ gesamtem Œuvre schildert die Autorin den Tod von John und erhellt mit einem Mal den Titel dieses beeindruckenden Romans. «In der Nacht, in der mein Sohn starb, wurde ich in Stein verwandelt, und ich weinte keine einzige Träne.»

Ach, Anstand!

Auch wenn Hagar es selbst nicht weiss, versteht man, dass sogar die Verweigerung des öffentlichen Trauerns eine Flucht vor der dörflichen Enge war. Jedes nach aussen gekehrte Gefühl stand hier unter Beobachtung und bedrohte die Würde der Einzelnen; jeder Blick war ein Prüfen, ob Hagar genug für ihren Mann und ihre Kinder sorgte: «Jede wahre Freude, die ich hätte in mir tragen können, an meinem Mann, an einem meiner Kinder oder schlichtweg am Licht des Morgens, am Dasein auf Erden, wurde durch irgendeine Vorstellung von Anstand ausgebremst und zum Stillstand gebracht – ach, Anstand, für wen denn nur?»

In der kanadischen Literatur ist Hagar Shipley einzigartig. Im Leben ist sie manchmal schwer zu ertragen, doch als Leser will man sie nicht verlieren. Sie ist eine Verletzte, die verletzt; eine Ungeliebte, die von der Liebe nicht lassen will: «Liebe, glaubte ich, müsse aus Worten und Taten bestehen, die zart waren wie Lavendelsäckchen.» Sie ist eine vom Leben Enttäuschte, die sich bis zuletzt mit Hoffnung ans Leben klammert, die wie ihre Autorin immer auf der Suche ist nach «ein klein wenig Anmut inmitten einer unansehnlichen Welt».

Margaret Laurence: Der steinerne Engel. Aus dem Englischen von Monika Baark. Eisele-Verlag, München 2020. 352 S, Fr. 32.90.