Brennende Kerzen in Schränken und brennende Worte im Mund

Kyra Wilder schildert in ihrem Debütroman „Das brennende Haus“ den Absturz einer Mutter in den Wahnsinn

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwas stimmt nicht mit dieser Buchausgabe. Der Klappentext behauptet, die Protagonistin heiße Erika. Der Rezensent findet diesen Namen bei zweimaligem Lesen auf keiner der über 250 Seiten und denkt über einen Termin beim Augenarzt nach. Doch eine Hörfunksendung bestätigt, dass die Erzählerin im Roman namenlos bleibt.

Auch mit der Erzählerin stimmt etwas von Anfang an nicht. Wer würde seinen Ehemann „M“ nennen und die beiden Kinder „E“ und „B“, anderen Leuten aber ihren vollen Namen geben? Entfremdung vom Mann würde im Laufe der Handlung verständlich, von den Kindern jedoch nicht. Geht es von vornherein um schützende Anonymität, weil Schlimmes geschehen wird?

Die Erzählerin ist mit ihrer Familie aus Amerika nach Genf gezogen, wo ihr Mann einen tollen Job bekommen hat, der ihn manchmal wochenlang von zu Hause fernhält. Dann sitzt sie mit ihrem Baby-Sohn und dem kleinen Mädchen allein in einem gemieteten Haus mit gemieteten Möbeln. Niemanden kennt sie in der geputzten und peinlichst auf Ruhe bedachten Schweiz, und Französisch spricht sie nicht.

Ihr fehlt die Energie, daran etwas zu ändern. In Genf sind zahlreiche internationale Organisationen zu Hause, da gibt es Amerikaner. Fände sich keine kontaktfreudige junge Mutti unter ihnen? Eine Fremdsprache kann man lernen. Die Erzählerin ist inkonsequent. Wenn sie sich mit ihren Kindern im nahen Park aufhält, empfindet sie jedes aus ihrem Französisch für Anfänger erschlossene Wort als Sieg und Wunder. Zu Hause legt sie das Buch weg und schreit, um die Stille zu vertreiben.

In einem Gespräch anlässlich des Verlagsvertrags für ihren Debütroman bezeichnete Kyra Wilder das emotionale Verwirrspiel der Mutterschaft als faszinierend. Auf YouTube erfährt man, dass der Schreibanlass für ihr Buch die schwere Zeit nach der Geburt ihres zweiten Kindes war. Der Verlag der Originalausgabe rühmt die schmerzvolle Geschichte eines schwindelerregenden Identitätsverlusts durch Mutterschaft.

Beim Lesen gewinnt man den Eindruck, dass diese Identitätskrise weniger durch die Kinder als durch den abwesenden Ehemann ausgelöst wird. M ist nicht nur im Beruf – mit Reisen nach London, Berlin und Rom – extrem tüchtig, sondern auch bei der Auswahl eleganter Anzüge und Frauen.

Seine Assistentin heißt Aurelie, was bei seiner Frau diesen Eindruck erweckt: „Der Name klang wie ein Seidenband oder wie ein Reh, lange Beine, große Augen, lange Wimpern.“ In einer Schlüsselszene zieht Aurelie bei einer zufälligen Begegnung mit M und dessen Familie ihre Schuhe aus, in denen sie schlecht laufen kann. Dabei stützt sie sich an der Schulter von M ab. Mit dem scharfen Blick der betrogenen Ehefrau sieht die Erzählerin, dass die Hand „die richtige Höhe“ kannte. M fängt die schwankende Aurelie auf und hält sie in den Armen. Für seine Frau bricht die Welt zusammen. „In diesem Moment ging ich unter, ich versank atemlos im Wasser.“ Sie taucht nie wieder völlig auf.

Nach knapp einem Drittel des Romans beginnt die erste von mehreren kursiv gedruckten Textpassagen. Dort wird eine namenlose imaginäre Besucherin einer nicht näher bezeichneten Heilanstalt von der Erzählerin angesprochen. Die ist in einem Zweibettzimmer untergebracht und den Anordnungen der Ärzte und der Willkür des Personals ausgeliefert. Manchmal bringen die Aufseher ihr Wasser gegen den Durst, wenn sie darum bittet.

Gegen das schlafraubende Schnarchen der Zimmergenossin wehrt sich die Erzählerin mit dem Schrei: „Es brennt!“, was ihr noch mehr Medikamente und neue Therapietermine einbringt. Sie weiß nicht, wann ihr Geburtstag ist, wohl aber, dass sie im Keller der Anstalt „schrecklich gehaust“ hat. Auch Erinnerungen kommen zur Sprache, zum Beispiel an Weihnachtspartys ihrer Mutter. Nach der letzten verschwand ihr Vater. Die vereinsamte Mutter nahm sich vor, mit der Tochter wunderbare Dinge zu erleben.

Zwischen der Erzählerin und der kleinen E wiederholt sich dieses verstörende Gemisch aus inniger Verbundenheit und neurotischer Ersatzliebe. In der Wohnung verläuft das Leben in sinnentleerter Routine: Oberflächen abwischen, Essen zubereiten, Zimmer aufräumen, Messer nachschleifen, Anzüge des Ehemanns zur Reinigung schaffen. Abwechslung bringt der häufige Ausflug in den nahen Park, wo eine schöne Fremde mit Kindern sitzt. Die Erzählerin möchte sie kennenlernen, kann aber die Sprachbarriere nicht überwinden.

M kommt ausnahmsweise nach Hause. Ein Besuch bei seinem Chef, der Vater geworden ist, steht an. Alles verläuft gut, man beherrscht seine einstudierten Rollen, auch wenn E im Badezimmer teure Kosmetika in den Abfluss gießt. Es stellt sich die rasch vergehende Illusion einer stabilen und glücklichen Familie ein, und die Erzählerin wünscht sich, sie wären so, wie sie auf andere Menschen wirken.

Zu Hause gibt sie sich Erinnerungen an die Flitterwochen mit M in Paris hin, wo sie in billigen Absteigen wohnten, jedoch Tage und Nächte erlebten, die „Hand aufs Herz, unglaublich romantisch“ waren. M fliegt für längere Zeit weg, und der Wahnsinn bricht aus. Nach der Begegnung mit Aurelie, die ein grünes Kleid trug, sieht die Erzählerin überall Frauen in grünen Kleidern. Sie hängen an Bäumen, tollen im Springbrunnen umher, klettern auf Statuen und werden zu grün schimmerndem Laub. In der Straßenbahn zieht Erika eine Frau in grünem Kleid schmerzhaft an den Haaren und wird in der Menge nicht als Täterin erkannt.

Mit ihr und den Kindern geschieht in der Wohnung viel Schreckliches, das sich zwischen alltägliche Verrichtungen und phantasievolle Spiele der Mutter mit E drängt. Das Grauen wird in kunstvollen melodischen Sätzen geschildert, die die Übersetzerin Eva Kemper beeindruckend ins Deutsche bringt.

Schon nachmittags trinkt die Erzählerin zwei, drei Gläser Wein. Von der Außenwelt geängstigt, will sie die Wohnung zur Festung machen und bringt sich im leeren Gästezimmer hinter Abfall in Sicherheit. B fällt aus dem Bettchen, seine Wangen sind mit roten Flecken übersät: Lippenstift oder Brandwunden? Die Lampen sind defekt. Kerzen müssen her und werden brennend in Schränken gefunden. Die Wohnung ist voller Asche. Überall sitzen Fliegen, vor denen man sich mit langen Ärmeln schützen muss.

Es spukt wie in den klassischen Geschichten dieses Genres. Noch jemand ist im Haus, legt die Kleidung von E zusammen und flicht ihr Zöpfe. Eines Tages riecht es nach Feuer, und ein anderes Ich verfolgt die Erzählerin in der brennenden Wohnung: eine schreckliche Frau, die ihre Kinder im Stich lassen will.

Mutter und Kinder werden gerettet. M riecht nach Meer, als er seine Familie im Krankenhaus besucht. Im neuen Auto fährt er sie zum neuen Haus, das er als perfekt bezeichnet. Die Erzählerin legt ihm die Hand auf die Schulter, bringt aber nicht die Kraft zu der leisen ernsten Bitte auf, nicht dorthin zu fahren.

Das Finale spielt, obwohl nicht kursiv gedruckt, in der Anstalt. Die Erzählerin fleht, sie möchte nicht mit all den Worten in ihrem Mund allein bleiben, die ihr die Lippen verbrennen. Die Verzweiflung dieser unglücklichen Frau und Mutter bildet den überzeugenden makabren Schluss eines eigenwilligen und gewichtigen Debütromans.

Titelbild

Kyra Wilder: Das brennende Haus.
Aus dem Englischen von Eva Kemper.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103900101

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