Ein Plädoyer für Weltliteraturen auf Englisch

Stefan Helgesson, Birgit Neumann und Gabriele Rippl legen mit ihrem „Handbook of Anglophone World Literatures“ eine erste umfassende Annäherung an das Forschungsfeld der anglophonen Weltliteraturen vor

Von Sandra FolieRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Folie

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das von Stefan Helgesson, Birgit Neumann und Gabriele Rippl herausgegebene Handbuch der anglophonen Weltliteraturen darf sich das erste seiner Art nennen. Das Konzept der Weltliteratur ist zwar gewissermaßen ein ‚alter Hut‘ und auch die neueren Weltliteraturstudien sind nicht mehr ganz so neu. Im Unterschied dazu wird im Handbuch der zumindest theoretische Anspruch, alle Literaturen aller Sprachen zu inkludieren, auf anglophone Literaturen begrenzt und aufgezeigt, dass die zuletzt in Weltliteraturdebatten stark kritisierte lingua franca (vgl. Emily Apter: Against World Literature, 2013; Aamir Mufti: Forget English!, 2016) zahlreiche Möglichkeiten für kritische, global angelegte Forschungen bietet, ohne dabei zwingend homogenisierend oder gar kulturimperialistisch zu agieren.

Das Handbuch versteht sich insofern auch nicht als normative Intervention, sondern vielmehr als provisorischer Wegweiser durch die sich ständig erweiternden und verschiebenden Welten der englischsprachigen Literatur auf dem ganzen Planeten. Der Plural im Titel verweist auf das inklusive und breite Verständnis von Weltliteraturen der Herausgeber*innen, denen es – wie wir in der Einleitung erfahren – nicht nur um einen mehr oder weniger flexiblen Kanon von transnational zirkulierenden Werken geht, sondern gerade auch um die „welt-bildenden Kräfte“ (world making capacities) von Literatur; um Spannungen, Intersektionen und Wechselwirkungen zwischen dem Globalen und dem Lokalen und die Erschaffung neuer und alternativer Welten in kanonischen wie auch nicht-kanonischen Texten.

Die knappe, aber nichtsdestotrotz zweckmäßige und ob ihrer Reflektiertheit wertvolle Situierung der Herausgeber*innen in der Einleitung glänzt auch dadurch, dass sie Leerstellen ganz explizit benennt – disziplinäre und diskursive Leerstellen wie die „surprising silence on the matter of gender“ in Weltliteraturdebatten oder die mangelnde begriffsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Terminus „‚world literature‘ and its many translations, near-synonyms and conceptual repercussions across different languages, places and scientific communities“. Während letztere Forschungslücke eher in den Bereich der komparatistischen Weltliteraturstudien fällt und für ein Handbuch anglophoner Weltliteraturen von untergeordneter Relevanz ist, verhält es sich mit der regelmäßig ausgeblendeten Kategorie Gender etwas anders. Die Wichtigkeit, Gender in Weltliteraturdebatten zu berücksichtigen, wird in der Einleitung zwar hervorgehoben, spielt in den meisten Beiträgen jedoch keine oder doch nur eine untergeordnete Rolle. Mit Uhuru Portia Phalafala (Kap. 13) und Mads Rosendahl Thomsen (Kap. 18) beziehen nur zwei der insgesamt 32 Beiträger*innen (17 Frauen*/15 Männer*) Gender nachhaltig in ihre Argumentation mit ein.

Phalafala betont in ihrem Kapitel über die Dekolonisation der Weltliteratur durch Oralität, dass weibliche Erzähltraditionen (das matriarchive) eine wichtige und in der Forschung oft marginalisierte Grundlage der ersten modernen afrikanischen Romane bildeten. Sie macht Nontsizi Mgqwetho als erste und einzige Xhosa „imbongi“ (praise poet) aus, von der ein schriftliches Werk in isiXhosa überliefert ist. Rosendahl Thomsen verweist in seinem Beitrag über die weltliterarische Bedeutung des Internets und der Digital Humanities auf eine Studie (Underwood / Bamman / Lee: The Transformation of Gender in English-Language Fiction, 2018), die anhand eines großen Korpus und mithilfe maschineller Erfassung analysiert, wie sich die Rolle von Gender in britischer und amerikanischer fiktionaler Literatur über die Jahrhunderte hinweg verändert hat. Obgleich es heute mehr Autorinnen als Autoren und mehr Leserinnen als Leser gibt – so das überraschende Ergebnis – hat sich der Raum, den weibliche Stimmen in der Belletristik einnehmen, verringert.

Das Handbuch gliedert sich in vier unterschiedlich umfangreiche Teile. Der erste umfasst fünf Beiträge, die sich Definitionen und Verwendungsweisen des Begriffs world literature widmen: postkolonialen Relektüren des Konzepts Weltliteratur (Goethe, Marx, Said) und mittlerweile kanonischen Texten der neueren Weltliteraturforschung (Pascale Casanova, Franco Moretti, David Damrosch); der Rolle der englischen Sprache in der Weltliteratur (z.B. im kolonialen indischen Bildungssystem und in englischen Wörterbüchern) und den unterschiedlichen englischen Begriffen für diese (von world literature über global literature bis hin zu Anglophone world literatures). Neil Lazarus steckt in seinem Beitrag (wie auch Pheng Cheah im nachfolgenden) das in der Einleitung festgestellte Defizit an vergleichenden terminologischen Auseinandersetzungen mit ‚Weltliteratur‘ innerhalb der englischen Sprache ab.

In den neun Beiträgen im zweiten Teil werden kritische theoretische und methodologische Zugänge zur Weltliteratur im Sinne der bereits in der Einleitung thematisierten Neukonzeptualisierung einer ‚Weltliteratur auf Englisch‘ (im Singular) als ‚Anglophone Weltliteraturen‘ (im Plural) vorgestellt. Der Fokus liegt einerseits auf den Beziehungen der Weltliteraturen zu benachbarten Forschungsfeldern (postkoloniale Theorie, environmental humanities, memory studies, Translationswissenschaft, Medienwissenschaft usw.), andererseits auch darauf, wie anglophone Weltliteraturen die Anglistik/Amerikanistik und die Vergleichende Literaturwissenschaft/Komparatistik mit- und umgestalten können, z.B. durch die verstärkte Einbeziehung mündlicher – oft weiblicher – Erzähltraditionen oder eine umfassendere Kontextualisierung der untersuchten Texte.

Der dritte Teil umfasst vier Beiträge, die soziologische Zugänge zu anglophonen Weltliteraturen, ihrer Distribution, Rezeption und Übersetzung, präsentieren: Von Entwicklungen und Herausforderungen im Marketing anglophoner Weltliteraturen (z.B. der zunehmenden Bedeutung von unabhängigen Verlagen, Self-Publishing und digitalen Rezensionsportalen) über Kanondebatten und Strategien des Unterrichtens anglophoner Weltliteraturen (vgl. Vilashini Cooppan: „English is many Englishes“) bis hin zur wichtigen Rolle des Internets und der Digital Humanities, die nicht nur den Zugang zu Texten und Informationen über diese (z.B. durch Datenbanken wie den Index Translationum, WorldCat, Goodreads), sondern auch den Umgang damit wesentlich verändert haben (z.B. distant reading, topic modelling).

Wurde bis hierher vor allem ein systematischer Überblick über die Vielfalt der theoretischen und methodischen Zugänge zu anglophonen Weltliteraturen geboten, so finden sich im vierten und letzten Teil des Handbuchs auch exemplarische Analysen englischsprachiger – kanonischer wie auch nicht-kanonischer – Primärtexte unterschiedlicher Gattungen (Prosa, Drama, Lyrik), geordnet nach den Geografien der anglophonen Weltliteraturen: Von Großbritannien, Irland, den USA und Kanada, über ‚die Ozeane‘ (in Anlehnung an den oceanic turn), die Karibik, Südafrika, Westafrika und Ostafrika bis hin zu Südasien, Südostasien (Hongkong und Singapur), Australien und Neuseeland. Die Gliederung nach Regionen und deren literatur- und kulturgeschichtliche Einordnung durch Expert*innen löst die von Jan Steyn in seinem Beitrag (Kap. 11) geforderte, umfassendere Kontextualisierung anglophoner Weltliteraturen ein.

Dass einige – wenige – Bereiche, wie z.B. die Verschränkung von Gender und Weltliteratur(studien), die ‚Neue Weltliteratur‘ (methodologisch produktiv gemacht u. a. von Elke Sturm-Trigonakis in Global playing in der Literatur: ein Versuch über die Neue Weltliteratur, 2007; engl. 2013) und die Kinder- und Jugendliteratur (deren world making capacities für Lehramtsstudent*innen ein wichtiges Praxisfeld darstellen könnten), nicht oder unzureichend abgedeckt sind, lässt sich bei einem Großprojekt, wie das Handbuch der anglophonen Weltliteraturen zweifellos eines darstellt, nicht vermeiden. Solche Lücken zeigen schließlich auch an, dass es Bedarf nach mehr gibt, was für ein Projekt, das von den Herausgeber*innen sehr bescheiden als „provisorischer Wegweiser“ bezeichnet wird, ja durchaus erfreulich ist. Wenn das Handbuch auch sicher mehr als einen provisorischen Wegweiser darstellt, so ist es gerade die in dieser vorsichtigen Einordnung zum Ausdruck kommende Umsicht und das hohe Maß an Selbstreflexivität der Herausgeber*innen (und Beiträger*innen), die das Handbuch zu einer empfehlenswerten Lektüre macht.

Es präsentiert einen in mehrerlei Hinsicht erfrischenden und ehrlich(er)en Zugang zum unter Wissenschaftler*innen oftmals verschrienen Handbuch-Format. Zum einen deshalb, weil es den genretypischen Überblick über theoretische und methodische Debatten liefert, gleichzeitig aber auch exemplarische Textanalysen anbietet – und dies nicht nur von den immergleichen weißen oder postkolonialen (in der Regel von Männern verfassten) ‚kanonischen‘ Texten, sondern von Gegenwartsliteratur wie beispielsweise Zadie Smiths Swing Time (2016), dem Debütroman der kanadischen Autorin Esi Edugyan The Second Life of Samuel Tyne (2004), People of the Whale (2008) der Chickasaw Autorin Linda Hogan und NoViolet Bulawayos afropolitanem Bestseller We Need New Names (2013); den Gedichten des jamaikanischen Poeten Kei Millers oder den Kurzgeschichten der amerikanisch-indischen Autor*innen Tania James und Kanishk Tharoor.

Darüber hinaus bietet das Handbuch auch stilistische Abwechslung. Zwar handelt es sich bei allen Beiträgen um wissenschaftliche Artikel, die diesem Anspruch ausnahmslos gerecht werden. Neben traditionellen Handbuchbeiträgen mit einführendem Überblickscharakter finden sich allerdings auch solche, die etwas postulieren (wie z.B. Theo D’haen die Kompatibilität, wenn nicht gar Affinität von postkolonialen und Weltliteraturstudien und Neil Lazarus, die Weltliteratur im Singular, systemisch und dezidiert politisch zu denken) oder Annahmen und neuere, teils spekulative Beobachtungen und Ausblicke präsentieren (wie z.B. Rosendahl Thomsens Überlegungen zu den immer beliebter werdenden Genres Biografie, historisches Sachbuch oder Fototext, welche die weltliterarische Vormachtstellung des Romans künftig ablösen könnten).

Diese selbstbewusst-bescheidene Heterogenität, Dynamik und Unabgeschlossenheit rückt das Handbuch der anglophonen Weltliteraturen der von Verlagen – und so auch von De Gruyters Reihe Handbooks of English and American Studies, Text and Theory – oftmals eingeforderten und nur selten erreichten breiten Zielgruppenansprache – Bachelorstudierende in den ersten Semestern ebenso wie erfahrene Wissenschaftler*innen – schon sehr nahe. Es dürfte, wenn nicht für alle, so doch für sehr viele Weltliteraturinteressierte etwas dabei sein; nicht zuletzt auch für jene traditionellen Komparatist*innen, die mit Weltliteraturen in mehreren Sprachen arbeiten und der Anglisierung der Welt höchst skeptisch gegenüberstehen.

Titelbild

Birgit Neumann / Gabriele Rippl / Stefan Helgesson (Hg.): Handbook of Anglophone World Literatures.
De Gruyter, Berlin 2020.
580 Seiten, 199,95 EUR.
ISBN-13: 9783110580846

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