Alternative Vergangenheiten

Mit „Agency“ legt William Gibson den zweiten, enttäuschenden Band seiner Jackpot-Trilogie vor

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das wirklich Beängstigende an der tatsächlichen Zukunft ist für mich der Newsfeed der Gegenwart“, zitierte der Guardian im Januar 2020 den Autor William Gibson. Wenn er daran denke, fuhr dieser fort, „dass mir 1984 jemand, der behauptet, aus der Zukunft zu kommen, Boris Johnson gezeigt hätte, hätte ich ihm gleich gesagt, er soll sich verpissen und nicht weiter so tun, als käme er tatsächlich aus der Zukunft“.

Doch der Gedanke ließ ihn nicht los, aus ihm ist sein jüngster Roman Agency entstanden. Darin erzählt Gibson, wie sich eine zurückliegende Vergangenheit zum Besseren für die Zukunft verändern lässt. Dass ein solches Unterfangen fundamental unserem Zeitverständnis widerspricht, hat er bereits im vorangegangenen Roman Peripherie thematisiert. In Agency scheinen nun der Brexit und die Wahl Donald Trumps abgewehrt. Niemand braucht mehr, wie sich Gibson im erwähnten Interview ausdrückte, solchen „Scheiß“ erleben zu müssen. Die Literatur vermag das zu richten.

Agency schreibt den 2014 erschienenen Roman Peripherie fort und bildet den zweiten Band der Jackpot-Trilogie rund um die verheerende Klimakatastrophe am Ende des 21. Jahrhunderts. In der Londoner Wohlfühloase im Jahr 2136, in der sich die übrig gebliebenen Kleptokraten von Bot-Technologie umsorgen lassen, sieht sich die Detective Inspector Ainsley Lowbeer neuerlich veranlasst, ins Geschehen der Vergangenheit einzugreifen. Dieses Mal hat sie das Jahr 2017 im Blick. In diesem von ihr anvisierten historischen „stump“ wirkt Hillary Clinton als erste Präsidentin der USA. Was Lowbeer jedoch stärker interessiert, ist eine Künstliche Intelligenz, die auch das Leben im Jahr 2136 betreffen könnte.

Wie schon in Peripherie versucht sie mit den technischen Mitteln, die 2017 bereits verstanden und beherrscht werden, aus der Zukunft Kontakt mit dieser Vergangenheit aufzunehmen, um eine Gefahr abzuwenden, die vielleicht sogar ihre eigene Stellung  in London bedroht. Das klingt kompliziert, entwickelt sich bei der Lektüre aber mit schöner Folgerichtigkeit im Wechsel der Perspektiven. Die ungeraden Kapitel erzählen die Ereignisse von 2017, die geraden von 2136, um sich mit der zunehmend engen Kontaktnahme mehr und mehr gegenseitig zu durchdringen.

2017 erhält die App-Flüsterin Verity Jane den Auftrag, eine neue KI namens Eunice zu testen: eine Transformation des militärischen UNISS-Projekts. Doch angesichts der kritischen Weltlage wird Eunice zum Spielball unterschiedlicher Interessen. Derweil spitzt sich im kurdischen Qamishli der Konflikt zwischen regionalen und globalen Mächten derart zu, dass ein Atomkrieg droht. Lowbeer muss ihn verhindern. Dabei kommt Eunice erst recht ins Spiel. Sie ist die vielleicht erste echte KI und steht für eine neue Utopie: der dezentral und autonom agierenden Künstlichen Intelligenz, die sich in den Dienst einer Mehrheit der Bevölkerung stellt und den kapitalistisch-militärischen Komplex unterläuft. Verity Jane kommuniziert intensiv mit Eunice. Doch eines Tages bleibt diese stumm, sie verschwindet von allen Servern und lässt lediglich ein paar sibyllinische Hinweise zurück. Wurde sie von einem feindlichen Konzern gekidnappt? Oder hat sich die KI selbst heruntergefahren, um genau das zu verhindern? Die Hinweise zeigen bald auf letzteres. Offenkundig hat Eunice autonom vorgesorgt und vorsichtshalber ein eigenes, dezentral organisiertes Netzwerk aufgebaut, das nun unabhängig zu arbeiten beginnt und Verity Jane in seine Aktionen mit einbezieht. Zwischen Verity und ihren geheimnisvollen Freunden auf der einen, einer dunklen Macht auf der anderen Seite beginnt eine wilde Jagd um die Kontrolle über Eunice.

Das Setting präsentiert sich ähnlich wie in Peripherie, doch im Unterschied dazu droht der wilde Plot in diesem zweiten Band mehr und mehr leer zu drehen. Es geht, wie der Titel sagt, sowohl dem Autor Gibson wie der Chief Inspector Lowbeer um Agency: um Handlungsfähigkeit innerhalb einer Zeitstruktur, die nicht mehr kontinuierlich verläuft, sondern sich immer wieder in Seitenäste, Stummel, Sackgassen verzweigt, in welchen die Menschen womöglich sogar dem verheerenden „Jackpot“ am Ende des 21. Jahrhunderts entkommen. Mit einem ironischen Seitenhieb geht es in Agency auch darum, „alternative Vergangenheiten zu kolonisieren“.

Gibson erneuert sein raffiniertes Spiel mit all den Motiven, die er in Peripherie eingeführt hat, doch er fügt ihnen hier kaum substantiell Neues hinzu. Die Handlung läuft in den vorgespurten Bahnen ab. Der Clinton-Trump-Plot, der einen Anlass zum Buch bot, wie Gibson sagte, bleibt ein unbeachtetes Randphänomen. Gibson führt einige Details näher aus, und wiederholt andere für neue Leser, damit sie das Zusammenspiel von Zukunft und Vergangenheit verstehen.

Einmal mehr demonstriert er zwar, mit welcher nonchalanten Selbstverständlichkeit er fremde Welten erzählen kann, als ob er als Autor mehr darüber wüsste. Er tut es nicht, wie er gerne zugibt. Daraus entstehen noch immer verblüffende, auch komische Situationen und Dialoge:

„Wollen Sie mir sagen, dass das hier die Zukunft ist?“
„Ziehen Sie es in Betracht. Behalten Sie es quasi im Hinterkopf. Lediglich als Möglichkeit.“
„Es ist nicht Ihre Zukunft“, sagte Rainey. „Ihr 2017 hat sich von unserem 2016 abgespalten.“
„Etwas früher, um genau zu sein“, sagte die Frau. „2015.“
Und wann soll das hier sein?“, fragte Verity.
„2136“

Das ist durchaus reizvoll zu lesen. Gibson verzichtet auf einen simplen Thriller-Plot, doch weil dieser zweite Band bezüglich der technischen Innovationen in der Spur von Peripherie verläuft, fehlt es zunehmend an echten Spannungsmomenten. Die Interaktion zwischen den beiden Zeitebenen steigert sich in rasant gesteigertem Tempo, parallel dazu wird immer undeutlicher, worauf das Ganze eigentlich hinaus will. Alles in allem fügt Agency der geplanten Jackpot-Trilogie einen enttäuschenden zweiten Band hinzu. Der philosophische Witz aus Peripherie kehrt als angestrengte Wiederholung zurück. William Gibson bleibt dennoch, wie der Boston Globe auf dem Buchrücken zitiert wird, „einer der originellsten und einflussreichsten Schriftsteller unser Zeit“. Agency ist mit Sicherheit nicht sein stärkstes Buch.

Titelbild

William Gibson: Agency. Roman.
Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann und Benjamin Mildner.
Tropen Verlag, Stuttgart 2020.
489 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783608504743

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