Antisemitismus nur bei Konservativen?

Jacob S. Eders Studie „Holocaust-Angst“ verengt den Blick auf die Kohl-Regierung

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hatte wiederholter Anstöße aus dem westlichen Ausland bedurft, bis das wiedervereinte Deutschland begann, öffentlich an den millionenfachen Mord an den europäischen Juden zu erinnern. Erst seit 1996 wird jährlich am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee, aller Opfer des Nationalsozialismus gedacht, damit auch jener der Shoa. Über das im Jahr 2005 eröffnete, in den 1990er Jahren vieldiskutierte Berliner Holocaust-Mahnmal kann man geteilter Meinung sein. Man kann seine Tourismusaffinität kritisieren oder die Konsumierbarkeit des volkspädagogisch aufbereiteten NS-Judenmords problematisieren, gar seine Zweckmäßigkeit bezweifeln oder die Sorge um die heute lebenden Juden wichtiger finden. Unstrittig aber bleibt die Notwendigkeit, in der Bundesrepublik das Beispiellose der Shoa zu dokumentieren. Denn die Massenerschießungen jüdischer Männer, Frauen und Kinder fanden im okkupierten Polen, Weißrussland, der Ukraine oder Südeuropa statt. Dort befanden sich auch die NS-Vernichtungslager von Chelmno, Belzec, Sobibor und Treblinka, die anders als Majdanek oder Auschwitz nicht zugleich Konzentrations- und Zwangsarbeitslager gewesen sind, sondern ausschließlich der reibungslosen Tötung von Juden dienten. All das aber wurde zunächst nicht öffentlich in Deutschland thematisiert. Von der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem abgesehen, waren die USA das erste Land, das die Erinnerung an die Shoa institutionalisierte.

Auch in Jacob S. Eders aus dem Amerikanischen übersetzter Doktorarbeit Holocaust-Angst. Die Bundesrepublik, die USA und die Erinnerung an den Judenmord seit den siebziger Jahren geht es nicht um den Holocaust, sondern um das Gedenken an ihn. Eder zufolge löste die Gefährdung des Staates Israel im Sechstage-Krieg 1967 und im Jom-Kippur-Krieg 1973 Bedrohtheitsgefühle unter amerikanischen Juden aus. Dies habe neben zunehmender Holocaust-Leugnung, der man zu begegnen suchte, das kollektive Erinnern an die Shoa forciert. Begleitet von innerjüdischen Kontroversen um Fragen nach dem Stellenwert der Shoa im jüdischen Leben – Hitler hätte gesiegt, stünde die NS-Judenvernichtung im Zentrum jüdischer Geschichte –, wurde der Massenmord in den USA allmählich zum Stoff in schulischer und außerschulischer Bildung, zum Inhalt von Fernsehserien wie Holocaust (1978) und schließlich zum Gegenstand nationaler Gedenkstätten wie dem United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington, das seit den siebziger Jahren geplant und 1993 eröffnet wurde. Das erregte unter einigen deutschen Diplomaten, Regierungsbeamten und Stiftungsvertretern laut Eder während der Kohl-Ära heftige Abwehr, Unmut, Aggressionen, kurzum das Empfinden, Opfer des amerikanischen Holocaust-Gedenkens zu sein. „Holocaust-Angst“ nennt Eder diese antisemitisch grundierte Täter-Opfer-Umkehr und weist sie schlüssig in Berichten, Briefwechseln und Randnotizen der Kohl-Administration nach.

Zum Vorschein kommen Fantasien von einer jüdischen Lobby, jüdischer Finanzkraft, kollektiver Charakterzüge, Vorwürfe der Übersensibilität oder, aus Sicht deutscher Diplomaten, unangemessener Emotionalität, eines „Holocaust-Eifers“ oder einer Instrumentalisierung des Völkermords für andere Zwecke, schließlich die altbekannte Verschwörungsfantasie vom beherrschenden jüdischen Einfluss auf amerikanische Politik und Medienöffentlichkeit, von jüdischer Macht. Solchen Vorstellungen hing bekanntlich auch Konrad Adenauer an, den Eder noch einmal zitiert. Doch waren solche judenfeindlichen Fantasien seit dem 19. Jahrhundert europaweit in Umlauf, in Deutschland nicht erst seit den Nationalsozialisten populär, in sämtlichen Milieus geläufig und auch unter ihren Gegnern zu finden. Der von Eder in den Papieren der Kohl-Administration aufgefundene antisemitische Gefühls- und Gedankenhaushalt war in Deutschland nie nur eine Angelegenheit der Nationalsozialisten, die ihn allerdings in radikalisierter Form zum Kernbestand ihrer Ideologie und Vernichtungspraxis machten, und in Europa nie nur eine von Faschisten und Nationalisten. Das ist einer der Gründe, weshalb es ausgesprochen selten Widerstand gegen die NS-Judenvernichtung in Deutschland und in Europa gegeben hat, stattdessen hier wie dort oft aktives Mitwirken während ihres Vollzugs. Ohne die Nationalsozialisten hätte es die Shoa nicht gegeben – aber dass es sie gegeben hat, war auch Ausdruck einer vielgestaltigen Judenfeindschaft in Deutschland und Europa. Eder gebraucht den Terminus „sekundärer Antisemitismus“ für das Phänomen der Täter-Opfer-Umkehr und die antijüdischen Stereotype. In der Antisemitismusforschung wird dieser Begriff inzwischen als problematisch angesehen, weil er als Schuldabwehr-Antisemitismus keineswegs ein lediglich abgeleitetes, nachrangiges oder gar neuartiges Phänomen beschreibt, sondern die ungebrochene Fortsetzung von Judenfeindschaft in aktualisierter Form.

Zu Recht, wenn auch nicht erstmalig, kritisiert Eder Konrad Adenauers und Helmut Kohls kontrafaktische Auffassung, die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden wäre in Deutschland nur durch eine Handvoll Nationalsozialisten erwünscht und betrieben worden. Eder beschreibt die narzisstische Besorgnis offizieller deutscher Repräsentanten um das Ansehen der Bundesrepublik in den Vereinigten Staaten, die Furcht, das Deutschlandbild könne Schaden nehmen, wenn der NS-Judenmord in der Öffentlichkeit detailliert thematisiert wird, sowie das Bedürfnis nach Vermittlung einer geläuterten und vom Judenhass gereinigten Nachkriegsgeschichte (das im Übrigen auch die DDR umtrieb). Wie Eder feststellt, hat Helmut Kohl seine anfänglich ablehnende Haltung gegenüber dem Holocaust-Gedenken im Verlauf seiner Kanzlerschaft geändert und das Berliner Mahnmal am Ende befürwortet. Leider zieht Eder aus seiner stichhaltigen Kritik an Adenauer und Kohl nicht die Konsequenz, auch nichtkonservative Milieus der Bundesrepublik in den Blick zu nehmen, wie es ja der Untertitel seiner Arbeit nahelegt.

Vierzehn Tage nach der Bundestagswahl 1998, die Helmut Kohls Kanzlerschaft und die nach ihm benannte Ära (1982–1998) beendete, hielt der Schriftsteller Martin Walser seine Friedenspreisrede, die ebenfalls gegen das Holocaust-Gedenken polemisierte, den Instrumentalisierungsvorwurf und die Schlussstrich-Mentalität in der Linken, in der politischen Mitte und im bildungsbürgerlichen Milieu gesellschaftsfähig machten. Gerhard Schröder, Kohls Nachfolger im Bundeskanzleramt, pflichtete Walser bei und hätte es vorgezogen, die bundesdeutsche Gedenkstättenlandschaft zu fördern, anstatt das Berliner Mahnmal zu errichten. All die von Eder aufgeführten judenfeindlichen Fantasien und Stereotype lassen sich signifikant auch in der politischen Mitte und im linken Milieu finden, wo sie nur anders begründet werden. Eder hätte sie noch in der späten DDR auf Regierungsebene feststellen können, als diese über den Jüdischen Weltkongress Zugang zum Weißen Haus suchte. Bei der Charakterisierung Helmut Kohls ordnet Eder den Antitotalitarismus dem konservativen Milieu zu, was faktisch falsch ist. Totalitäre Strukturen und totalitäres Denken von rechts und links (neuerdings auch vonseiten des politischen Islam) zu verwerfen, ist ein Grundkonsens liberaler Demokratien und folgt keiner speziell konservativen Agenda.

Für die Leserschaft hierzulande dürfte das Kapitel zur „Holocaustomania“ – einem polemischen Begriff, den der amerikanische Judaist Jacob Neusner während der innerjüdischen Kontroverse um das amerikanische Holocaust-Gedenken prägte – am interessantesten sein, weil diese Debatten in der Bundesrepublik wenig bekannt sind. Anders als die antisemitischen Stereotype und der Widerstand gegen das Holocaust-Gedenken in der Kohl-Ära, deren Feststellung unspektakulär ist, weil sie Zeitgenossen aus Medien und Diskussionsrunden vertraut sind. Mit ihrem betont antikonservativen Blickwinkel, der Aussparung der ehemaligen DDR und der Ausblendung des linken Antisemitismus erhält die Studie eine tendenziöse Note. Denn viele Konservative und Linke haben gemeinsam, Antisemitismus ausschließlich bei (Neo-)Nationalsozialisten und Rechtsextremisten wahrzunehmen. Eher unfreiwillig dementiert Eder die während der Nullerjahre in Mode gekommene, verlogene Rede vom Holocaust als „negativem Gründungsmythos der Bundesrepublik“, die Linke immer dann bemühen, wenn sie zu Solidarität mit Palästina und dem globalen Süden verpflichten wollen und dafür zum relativierenden Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit der Shoa ansetzen. Auch eine Form von „Holocaust-Angst“.

Titelbild

Jacob S. Eder: Holocaust-Angst. Die Bundesrepublik, die USA und die Erinnerung an den Judenmord seit den siebziger Jahren.
Aus dem Englischen von Jörn Pinnow.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
432 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783835333772

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