Ihr Mann nannte Stalin «Seelenverderber und Bauernschlächter»: Nadeschda Mandelstams Erinnerungen in neuer Übersetzung

Wer erfahren will, welches Grauen Stalins Terrorregime für den Einzelnen bereithielt, sollte Nadeschda Mandelstams «Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe» über das tragische Leben ihres Mannes Ossip lesen.

Ulrich M. Schmid
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Dem Dichter Ossip Mandelstam bescheinigte man «Verdienste um die russische Literatur bei gleichzeitiger Nichteignung für die sowjetische Literatur». Er starb 1938 in der Verbannung.

Dem Dichter Ossip Mandelstam bescheinigte man «Verdienste um die russische Literatur bei gleichzeitiger Nichteignung für die sowjetische Literatur». Er starb 1938 in der Verbannung.

Keystone

So muss man seine Memoiren beginnen können: «Nachdem er Alexei Tolstoi geohrfeigt hatte, kehrte O. M. eilends nach Moskau zurück.» Medias in res springt Nadeschda Mandelstam (1899–1980) in das Leben ihres Dichtergatten Ossip Mandelstam (1891–1938). Auf 600 Seiten legt sie Zeugnis ab über eine gewalttätige Zeit, die vor der Wahrheit der Lyrik so sehr Angst hatte, dass sie ihre Dichter in den Tod schickte.

O. M. – so nennt die Autorin ihren Protagonisten konsequent – mochte sich nicht mit dem verlogenen Stalinismus abfinden. Er wählte sehenden Auges eine prekäre Existenz und verteidigte bis zu seinem tragischen Ende die Vision einer hellenisch-jüdisch-christlichen Kulturtradition, die «teleologische Wärme» ausstrahlt.

Absolute Entfremdung

Nadeschda Mandelstams berühmter Tatsachenbericht, der nun in einer schnörkellosen Neuübersetzung vorliegt, ist aber viel mehr als nur eine Biografie ihres berühmten Mannes. Die «Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe» zeichnen ein eindringliches Bild der absoluten Entfremdung, der Intellektuelle wie die Mandelstams in der stalinistischen Diktatur ausgesetzt waren.

Immerhin gab es einige Exponenten des Stalin-Regimes, die Ossip Mandelstams literarischen Rang erkannten. Nikolai Bucharin und Wjatscheslaw Molotow verschafften dem Dichter eine Rente für seine «Verdienste um die russische Literatur bei gleichzeitiger Nichteignung für die sowjetische Literatur». Umgekehrt blieben die sowjetischen Literaturgeneräle taub für Mandelstams feine lyrische Töne. Als Mandelstam beim Schriftstellerverband eine Eingabe für eine Hose und einen Pullover machte, erhielt er von Maxim Gorki einen abschlägigen Bescheid. Die Begründung lautete: «Braucht er nicht.»

Mandelstams mangelhaft ausgestattete Garderobe erwies sich allerdings bald als sein kleinstes Problem. Weniger aus offener Rebellion denn aus lyrischer Aufrichtigkeit hatte Mandelstam 1933 ein scharfes Epigramm auf den «Seelenverderber und Bauernschlächter» Stalin verfasst und im Freundeskreis vorgetragen. Kurz darauf wurde er verhaftet.

Stalin höchstpersönlich erkundigte sich in einem Telefonanruf bei Boris Pasternak nach dem dichterischen Rang Mandelstams. Die Anweisung von «ganz oben» lautete «isolieren, aber erhalten». Das Ehepaar Mandelstam wurde aus Moskau in die Provinz verbannt und fristete dort ein kärgliches Leben, das die Geheimpolizei wie «mit Röntgenstrahlen durchleuchtete».

Nadeschda Mandelstam berichtet von angeblich lyrikbegeisterten Bekannten, die sich als Spitzel entpuppten. Die Mandelstams lebten in ständiger Angst vor einer Verhaftung und einer Beschlagnahmung des literarischen Œuvres. Aus diesem Grund lernte Nadeschda die Gedichte ihres Mannes auswendig und memorierte sie später während ihrer eintönigen Tätigkeit als Fabrikarbeiterin. In seiner Verzweiflung beging Ossip zwei Selbstmordversuche: Er schnitt sich die Venen auf und stürzte sich aus einem Fenster. 1938 wurde er ein zweites Mal verhaftet und in den Fernen Osten deportiert.

Tragische Episoden

In den Jahren nach dem Verschwinden ihres Mannes sammelte Nadeschda Mandelstam hartnäckig Informationen. Dabei stiess sie auf tragische Episoden aus der wahnwitzigen Epoche des Stalinismus, die sie mit beklemmender Nüchternheit schildert: Die Frau des verbannten Dichters Usow pflegt ihr Gesicht, ihre Hände und ihren Zopf auch nach dem Tod ihres Mannes sorgfältig, damit er sie im Jenseits wiedererkennen kann. Zwei adrett gekleidete Töchter eines in Ungnade gefallenen Geheimpolizisten wehren sich auf der Auskunftsstelle für Deportierte vergeblich gegen ihre Einweisung in ein Kinderheim. Ein aus dem Gulag Zurückgekehrter trägt Frauenschuhe, die ihm gut passen, weil er sich selbst im Lager die abgefrorenen Zehen mit einer Axt abgehackt hat.

Nadeschda Mandelstams Nachforschungen zeitigen nach und nach Ergebnisse. Sie vergleicht unterschiedliche Erzählungen von Lagerinsassen, die Ossip Mandelstam noch getroffen haben. Allerdings sind die Angaben widersprüchlich und die Zeugen nach ihrem langjährigen Gulag-Martyrium unzuverlässig. Am Ende bleiben nur Mutmassungen. Nadeschda beschliesst ihren Bericht mit dem schrecklichen Trost, dass Mandelstam früh gestorben sei und nicht langsam im Arbeitslager habe verenden müssen.

Zwei Wermutstropfen mischen sich in die Neuausgabe von Nadeschda Mandelstams Memoiren. Zum einen hat sich die Herausgeberin Ursula Keller bei den Kommentaren auf die sowjetische Literaturenzyklopädie gestützt und erwähnt deshalb die mittlerweile gut dokumentierte prekäre Rolle einzelner Literaturfunktionäre bei Ossip Mandelstams Untergang nur am Rande. Zum anderen musste jeder Band mit einem Aufkleber versehen werden, auf dem nachträglich die Quellenangabe der auf Deutsch zitierten lyrischen Werke Mandelstams angegeben ist. Ursula Keller hat sowohl im Haupttext als auch im Anmerkungsteil auf Ralph Dutlis bahnbrechende Übersetzung von Mandelstams Gesamtwerk zurückgegriffen, ohne dies kenntlich zu machen. Dies ist umso bedauerlicher, als die «Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe» dazu einladen, auch das exquisite Werk von Osip Mandelstam neu zu lesen.

Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe. Aus dem Russischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Ursula Keller. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 782 S., Fr. 38.90.

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