Die Revolution der Sexpuppen frisst am Ende auch nur wiederum ihre Kinder

Alles löst sich auf, die Grenzen verwischen sich, und ein Roman gerät ausser Rand und Band. Martina Clavadetscher riskiert viel in ihrem entfesselten Buch.

Paul Jandl
Drucken

Vielleicht muss man Martina Clavadetschers neuen Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» so zusammenfassen: Eine der drei Hauptfiguren lebt im Manhattan der Gegenwart. Sie heisst Iris, und zu ihren versponnenen erzählerischen Séancen finden sich allabendlich die beiden Damen Godwin und Wollstone ein. Deren Namen könnten eine Anspielung auf die romantische Schriftstellerin Mary Shelley sein, die als Mary Godwin auf die Welt gekommen war und nach ihrer Hochzeit mit dem Schriftsteller Percy Bysshe Shelley unter dem Namen Mary Wollstonecraft Shelley berühmt wurde.

Mary Shelley wiederum war eine Freundin des Dichters Lord Byron. Dieser Byron war der Vater von Augusta Ada Lovelace, der genialen Mathematikerin des 19. Jahrhunderts, ohne die es die heutigen Computer vielleicht nicht gäbe. Was Ada Lovelace und Martina Clavadetscher verbindet: Clavadetscher macht Lovelace zu ihrer zweiten Hauptfigur. Die dritte Hauptfigur heisst Ling Olem und ist gewissermassen die Halbschwester von Iris und Ada. Sie arbeitet in der chinesischen Provinz Guangdong in einer Sexpuppenfabrik. Olem heisst übrigens auf Estnisch «ich bin», aber das tut vielleicht gar nichts zur Sache.

Die Schriftstellerin Martina Clavadetscher.

Die Schriftstellerin Martina Clavadetscher.

Janine Schranz

Mit «Die Erfindung des Ungehorsams», Clavadetschers zweitem Roman, ist es ein bisschen wie bei Loriots Geschichte von Lord und Lady Hesketh-Fortescue. Zwischen North Cothelstone Hall, Nether Addlethorpe und Middle Fritham, zwischen Manhattan, Kirkby Hall und Guangdong kann man sich ziemlich verirren. Nach fast dreihundert Seiten fühlt man sich gefangen in einem Labyrinth, das auch ein Labor sein könnte. Man kann nur raten.

Die kopflose Puppe auf dem Sofa

Ist der Roman eine techno-feministische Utopie, in der sich die Frauen vom Joch der Männerherrschaft befreien? Oder ist es eine Dystopie aus «Frankenstein» und neuer digitaler Welt? Dass Mary Shelley, die Autorin von «Frankenstein», und Ada Lovelace, die Rechenmaschinenpionierin, in einem Buch zusammengebracht werden, könnte darauf hindeuten. Aber der Rest ist eine mühsame Schnitzeljagd nach Sinn, die durch das Raunen des Romans auch nicht leichter wird.

In Guangdong jedenfalls ist Ling mit der Qualitätskontrolle bei den lebensechten Sexpuppen beschäftigt. Jeder kleine Makel, der diese massenhaft hergestellten Gerätschaften individualisieren könnte, muss beseitigt werden. Die Programmierabteilung arbeitet unterdessen daran, die Algorithmen der Sprachfunktionen immer weiter zu optimieren. Die künstliche Intelligenz, die zum Beispiel Harmony heisst, schafft alltagstauglichen Smalltalk, während Ling in einer sprachlosen Einsamkeit dahinlebt. Mit einer kopflosen Puppe neben sich auf dem Sofa und immer wieder mit dem gleichen Film. «Paradise Express», einem Schnulzenklassiker des chinesischen Kinos. Ling ist Vollwaise und Autistin. Oder überhaupt etwas ganz anderes.

Kitschig schöne Kindersprache

Der Chef von Clavadetschers Frankenstein-Unternehmen trägt den schönen Namen Capec und ist bestimmt kein Tscheche. Unter Programmierern heisst die Abkürzung CAPEC «Common Attack Pattern and Enumeration Classification». Es ist eine Liste digitaler Muster, die bei Hackerattacken auftreten. Man muss das eigentlich wissen, um zu verstehen, worauf der Roman in seiner fortschreitenden Erzählung anspielt, denn die Produktion des Unternehmens läuft ziemlich schnell aus dem Ruder. Wer ist hier der Puppenspieler? Mehr und mehr übernehmen die Frauen die Macht, die Männer verschwinden aus der Stadt. Aber sind die Frauen überhaupt noch Frauen und nicht auch schon längst Puppen?

Martina Clavadetscher dreht Runde um Runde in ihrer Spirale der Andeutungen und Möglichkeiten, während die Sprache ihres Romans das Unpräzise mit Preziosen und Kitsch anreichert. «Das Erfinden ist unser schönstes Können», heisst es einmal in schönster Kindersprache. Man kann nicht behaupten, dass vor Erfindungen zurückgeschreckt wird. Eine unsichtbare «Liebeskette» verbindet echte und künstliche Frauen aus mehreren Jahrhunderten, und es wundert nicht, dass es die aus Silikon und künstlicher Intelligenz bestehende Puppe Harmony ist, die im Buch die Geschichte der Ada Lovelace erzählt. Die Geschichte jener Frau, der man als Kind schon Prügel angedroht hat, weil sie zu viel Phantasie besass und auch «zu viel Blut». Dass eine Rechenmaschine eines Tages wie Gott sein könnte, war einer der Gedanken der Ada Lovelace, geboren aus einem überschäumenden Talent, das in Ideen der Nüchternheit dachte.

Die Verpuppung der Welt

Eigentlich wäre das alles guter Stoff, wenn sich der Roman nicht so hemmungslos zwischen den Zeiten und Welten, zwischen Realität und Metaphern verheddern würde. Alles bedeutet etwas, und das bedeutet, dass am Ende nichts mehr etwas ist. Mit den Grenzen zwischen wirklich und künstlich wird schliesslich auch die ganze Welt aufgelöst.

Auch Iris, die mit ihren Séancen an den Nerven des Lesers sägt, löst sich am Ende in ihrer bisherigen Gestalt auf. Sie entdeckt, dass die Welt «kein Kasten» ist, und verlässt ihre Daseinsform in einer Art umgekehrtem Reifungsprozess. Aus der erwachsenen Frau wird, natürlich!, eine Puppe.

Martina Clavadetscher: Die Erfindung des Ungehorsams. Roman. Unionsverlag, Zürich 2021. 288 S., Fr. 29.–.

Mehr von Paul Jandl (Jdl)