Was die Kirche lehrt, kann Antisemitismus fördern: In Seelisberg wurde nach dem Krieg der jüdisch-christliche Dialog vorbereitet

Auch in der Schweiz war der Antisemitismus verbreitet. Doch nach dem Krieg gingen wesentliche Impulse zum jüdisch-christlichen Dialog von der Schweiz aus. Jehoschua Ahrens hat die Anfänge der jüdisch-christlichen Verständigung untersucht.

Harm Klueting
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Vereint gegen Antisemitismus: Die Konferenz von Seelisberg (1947) schuf nach dem Krieg Grundlagen für den jüdisch-christlichen Dialog.

Vereint gegen Antisemitismus: Die Konferenz von Seelisberg (1947) schuf nach dem Krieg Grundlagen für den jüdisch-christlichen Dialog.

PD

Auschwitz steht für den Höhepunkt des bis zur industriellen Massenermordung gesteigerten Antisemitismus. Doch war Antisemitismus nicht nur ein deutsches Problem, sondern eine weitverbreitete Erscheinung. Sie verband sich mit dem christlichen Antijudaismus und verstärkte sich im Gefolge der Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts durch rassenbiologische Lehren.

Jehoschua Ahrens, Verfasser des auf eine Luzerner Dissertation zurückgehenden Buches «Gemeinsam gegen Antisemitismus – Die Konferenz von Seelisberg (1947) revisited», schreibt: «In der Schweiz existierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein starker Boden an Antisemitismus und Antijudaismus in der Gesellschaft und in den Kirchen. Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung keine offene Judenfeindschaft praktizierte, so wurde sie von den meisten Schweizern stillschweigend hingenommen, oft auch mit Sympathie.»

Es gab in der Schweiz aber auch eine judenfreundliche Tradition. Ab 1830 bestand der Verein der Freunde Israels, dem es um Judenmission ging, bis der Verein 1943 die Judenmission zugunsten der Unterstützung jüdischer Flüchtlinge zurückstellte, was aber an vereinsinternem Widerstand scheiterte. Schritte zum christlich-jüdischen Dialog gingen von Einzelnen aus dem reformierten Milieu aus – von Leonhard und Clara Ragaz, Paul Vogt, Gertrud Kurz, Wilhelm Vischer, Karl Barth – und in geringerem Umfang von katholischen Theologen wie Charles Journet und Jean André Moise de Menasce.

Ein internationaler Bund

Gefördert wurden interreligiöse Begegnungen auch von der Flüchtlingsarbeit, unter anderem des Schweizerischen Evangelischen Hilfswerks für die Bekennende Kirche in Deutschland. Es gab auch jüdische Dialogbemühungen, vor allem aus der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, auf Initiative von Georg Guggenheim, Hans Ornstein und dem Rabbiner Chaim Zwi Taubes.

Nach dem Novemberpogrom in Deutschland 1938 fanden in Zürich Wipkingen bis 1941 Tagungen des Evangelischen Hilfswerks statt. Im November 1942 kam es zum ersten offiziellen Treffen mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund. 1943 und im November 1945 gab es in Walzenhausen entsprechende Treffen. Aus der zweiten Tagung ging im April 1946 in Zürich die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft (CJA) mit Hans Ornstein und dem Maschinenbauprofessor der ETH Erich Bickel hervor.

In Grossbritannien und den USA waren solche Dialogforen bereits früher entstanden. Im Sommer 1946 veranstalteten die amerikanische National Conference of Christians and Jews und der britische Council of Christians and Jews eine Konferenz in Oxford, an der auch Vertreter aus der Schweiz teilnahmen. Man dachte an die Gründung eines International Council of Christians and Jews. Erich Bickel wurde gefragt, ob die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft eine Konferenz in der Schweiz organisieren könnte. Er schlug dafür ein Sekretariat vor, das nach der Konferenz als Büro des International Council fortgeführt werden sollte. Als Sekretär wurde Pierre Visseur gewonnen – wie der Rezensent mithilfe des Universitätsarchivs Bern ermitteln konnte, identisch mit Pierre-Arthur Visseur (1920–2019).

Botschaft an die Kirchen

Die Konferenz fand im Sommer 1947 in Seelisberg statt. Amerikaner und Europäer verfolgten verschiedene Ziele. Die Amerikaner strebten Bildungsprogramme unter Zurückstellung der religiösen Aspekte an, während für die Europäer die Religion im Zentrum der Dialogarbeit stand, was nach Seelisberg zum offenen Konflikt führte. Verstärkt wurde das durch Visseur, der während des Krieges als Korrespondent der «Berner Tagwacht» in New York gelebt hatte. «Von Anfang an ist klar, dass Visseur, obwohl Schweizer, ganz auf der amerikanischen Linie ist und diese Position vertreten wird. Er machte klar, dass die Konferenz in Seelisberg keine theologische Konferenz war und auch nicht sein sollte.»

Daher stand in Seelisberg die 1. Kommission, in der es um Bildungsprogramme gegen Antisemitismus ging, im Mittelpunkt, während die 3. Kommission, die die Kirchen betraf, nachrangig war. Doch war es diese Kommission, deren Arbeit Bedeutung erlangte. Das war die auch als «Zehn Punkte» bekannte «Botschaft an die Kirchen», die wegen der darin von christlichen Theologen getroffenen Aussage, dass bestimmte christliche Lehren Antisemitismus verursachen könnten, bald als historisch galt.

Ähnlich war das Missverhältnis zwischen amerikanischen, auf «intercultural education» zielenden Erwartungen und tatsächlichem Ergebnis bei der Folgekonferenz im Juli 1948 in Freiburg i. Ü., an der Religion nur eine untergeordnete Rolle spielen und die religiöse Kommission im Hintergrund bleiben sollte. Doch war diese Kommission sehr aktiv und bestätigte die «Zehn Punkte» von Seelisberg.

Wegbereitend für die Kirche

In Freiburg wurde der International Council formell mit Büro in Genf und Visseur als Sekretär gegründet. Bald aber führte der Konflikt zwischen Amerikanern und Kontinentaleuropäern mit den Schweizern an der Spitze nicht nur zur Verdrängung der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft aus dem International Council, sondern auch zu dessen Scheitern. Die amerikanische National Conference trat ihm 1950 nicht bei, sondern gründete die Organisation World Brotherhood.

Erst 1974 entstand der International Council of Christians and Jews neu. Hingegen spielten die «Zehn Punkte» von Seelisberg eine wichtige Rolle für die theologische Neuorientierung der römisch-katholischen Kirche bezüglich der Juden und für die Erklärung «Nostra aetate» des Zweiten Vatikanischen Konzils vom 18. November 1965.

Jehoschua Ahrens: Gemeinsam gegen Antisemitismus – Die Konferenz von Seelisberg (1947) revisited. Die Entstehung des institutionellen jüdisch-christlichen Dialogs in der Schweiz und in Kontinentaleuropa. (Forum Christen und Juden, Bd. 19) LIT-Verlag, Berlin-Münster-Wien-Zürich-London 2020. 314 S., € 49.90.