Sich selbst sein, das ist das ganze Leben

Im biografischen Romandebüt „Was wir scheinen“ von Hildegard E. Keller sieht die Leser*in die Welt mit den Augen der 69-jährigen Hannah Arendt

Von Anika WaldorfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anika Waldorf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss kein*e Arendt-Kenner*in sein, um zu erkennen, dass Hannah Arendt boomt: Die ihr gewidmete Ausstellung im Deutschen Historischen Museum mit dem monumentalen Titel Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert; der aus dem Nachlass publizierte Vortrag Von der Freiheit frei zu sein, welcher in die Spiegel-Bestseller-Liste emporkletterte; das Mammut-Projekt der Freien Universität, an welcher ein internationales Team an einer kritischen Gesamtausgabe in Hybrid-Edition (Print und digital) arbeitet; bis hin zur erfolgreichen Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt des amerikanischen Autors Ken Krimstein, in der Arendt zur lässigen popkulturellen Stilikone avanciert. Dies sind nur einige wenige Beispiele einer mühelos fortzusetzenden Liste, die bezeugen, dass es keineswegs übertrieben scheint, von einer Renaissance des Lebens und Werkes der Hannah Arendt zu sprechen. Aber was wissen wir über den Menschen Hannah Arendt? Was können wir überhaupt wissen? Was von dem, was wir zu wissen glauben, ist Fiktion? Und wer kommt dahinter zum Vorschein? Der Beantwortung dieser Fragen widmet sich Hildegard E. Keller u.a. in ihrem gerade erschienenen biografischen Romandebüt Was wir scheinen. Souverän konstruiert in drei Teilen, aufgeteilt in 27 Kapitel auf über 500 Seiten, erzählt Hildegard E. Keller aus der Perspektive Hannah Arendts und es entsteht dabei ein Bild, welches weit vielschichtiger ist als das „Image-Making“ der rauchenden Arendt während des Gaus‘-Interviews, in welchem sie mit befremdlich tiefer Stimme kühn die „Banalität des Bösen“ erklärt.

Der Auftakt: Regen prasselt an die Fenster des Abteils und die Frau im Zug erinnert Fetzen eines Traumes, der sie seit 14 Jahren auf Reisen begleitet: „der Traum vom Glaskasten“. Vom Schaffner geweckt, irgendwo vor oder hinter dem Gotthard-Tunnel erwacht Hannah Arendt eben noch träumend im Presseraum des Jerusalemer Gerichtsgebäudes, jetzt geradewegs unterwegs Richtung Locarno. Es ist Sommer 1975 und Arendt ist inzwischen 69 Jahre alt, ihr Ehemann Heinrich Blücher bereits seit fünf Jahren verstorben, als sie ein letztes Mal vor ihrem Tod ins schweizerische Tessin aufbricht. Gedankenschwer, aber vor allem mit Vorfreude im Gepäck auf vier Wochen Erholung, in der ihr lieb gewordenen spektakulären Landschaft des Maggia-Tals, wird Hannah Arendt bereits im ersten Kapitel von Erinnerungen an den Eichmann-Prozess heimgesucht. Es sind Erinnerungen an die Etappe ihres Lebens, als sie allmählich „zu einer Fiktion der anderen wurde“.

Ereignisse während der vier Wochen Sommerurlaub in Tegna wechseln regelmäßig mit Rückblenden. Gedankliche Such- und Erinnerungsbewegungen der Hauptfigur führen diese zurück zu ihrem bereits gelebten Leben, ihren Lieben, ihren Freundschaften, ihren Werken und den teilweise heftigen Kontroversen darüber. Die Reise nach Tegna wird so für die Figur Hannah Arendt zu einer Reise in die Vergangenheit und den vielen Orten, wo sie tätig war: New York, Köln, Berkeley, Jerusalem, Zürich, Rom, und eben immer wieder Tegna. Diese letzte Reise wird für Hannah Arendt zur Reise zu sich selbst.  

Keller vermag es, Fakten und Fiktion so fein zu verweben, dass ein authentisches Portrait einer Hannah Arendt entsteht, die wir so noch nicht kennengelernt haben: Eine robuste, dem Leben verschriebene Hannah Arendt, die erstaunlich pragmatisch mit den Tücken des Alltags und des Alterns umgeht. Eine Hannah Arendt, der man nur zu gerne im Zug oder Flieger über den Weg laufen würde, um in ein Gespräch mit ihr einzutauchen. Eine Hannah Arendt, die bis ins fortgeschrittene Alter radikal unvoreingenommen auf Menschen zugeht und dabei eine kluge, aber nie aufdringliche Gesprächspartnerin ist. Eine Hannah Arendt, die Freundschaften zu pflegen weiß und haufenweise Briefe und Postkarten rund um den Globus schickt. Eine bodenständige Hannah Arendt, die der so ganz anders als sie selbst gearteten Ingeborg Bachmann in ihrer Wohnung am Riverside Drive in Manhattan Eier mit Speck brät. Eine sensible Hannah Arendt, die sich mit Versen und Gedichten durch sämtliche Lebensphasen begleiten lässt. Eine lyrische Hannah Arendt, die selbst Gedichte und ein Märchen schreibt, zumindest bis zum Wendepunkt in ihrem Leben, dem Tag nämlich, an dem „eine Lawine aus Eis und Dreck und Blumen, alles durcheinander, zum Kotzen, damals“ über sie einbricht.

Und letztlich auch: Eine Hannah Arendt, die zwar unter der heftigen Kritik zu ihrem Eichmann-Buch leidet, jedoch nie bereut, den Bericht so geschrieben zu haben, wie sie ihn eben geschrieben hat, weil sie es „zwischen den Stühlen richtig“ findet, „auch wenn es unbequem ist“. Der Verlust einiger Freundschaften hingegen, wie der zum Jugendfreund Gershom Scholem, die unter der von ihr so genannten „Kampagne gegen ihre Person“ in die Brüche ging, schmerzt sie sehr. Umso mehr Trost findet sie bei den Freunden, die ihr nach wie vor loyal gesinnt bleiben, und den „gültigen Worten“, die diese ihr als Schatz hinterlassen. Kraft schöpft Arendt zum Beispiel in der Zeile aus einem Brief Karl Jaspers: „Sich selbst sein, das ist das ganze Leben.“ Dieser Roman schaut hinter die „zur Fiktion gewordene“ Fassade und entdeckt nichts mehr oder weniger als einen Menschen.

Erstaunlich reif für ein Debüt ist die gekonnte Verschränkung von Form und Inhalt, was nicht verwundern muss, da Keller längst keine Unbekannte mehr im Schweizer Literaturbetrieb ist. Einen Namen hat sie sich bereits als Mitglied des Literaturclubs des Schweizer Fernsehens oder auch als Jurorin des Ingeborg-Bachmann-Preises gemacht. Hier schreibt eine Frau, die weiß, wie Storytelling funktioniert. Es beeindruckt auch, aus welcher Vielzahl authentischer Textstücke Keller sich bedient, um diese neu zusammenzusetzen und zu einem Ganzen zu fügen: Es wird nicht nur aus Briefen der vielen (Brief-)freundschaften Arendts zitiert, aus Originaltexten diverser Werke Arendts, aus Gedichten Walter Benjamins und Gottfried Kellers, sondern es sind auch Gedichte aus Hannah Arendts Feder eingewoben. Dieses Vorgehen erfordert profunde Kenntnisse über Leben, Werk und Zeit, von denen der Leser profitiert.

Fraglich allerdings ist, welche bzw. wie viel Vorkenntnisse der Roman den Leser*innen abverlangt. Es bleibt zu hoffen, dass den Leser*innen, die bisher wenig von und über Hannah Arendt erfahren haben, nicht auf halber Strecke des immerhin 500 Seiten schweren Romans die Luft ausgeht. Eindeutig im Vorteil ist die Leserschaft, die bereits eine ungefähre Vorstellung mitbringt, wer die vielen historischen Figuren aus Arendts Intellektuellen-Kreisen sind. Erst dann kann man sich einen Reim machen, auf die zahlreich zitierten Ausschnitte aus Briefen und Gesprächen mit den Benjis, Kurts, Martins, Hans‘ und Karls.

Wer vielleicht auch wegen des Titels Was wir scheinen eine Art Enthüllungsroman erwartet, wird enttäuscht. Keller hütet sich davor, ins Voyeuristische abzugleiten, sondern bleibt mit ihrer Figur auf Augenhöhe. Es gibt keine Aufmerksamkeit heischenden Höhepunkte oder Intimitäten, die es auszupacken gilt. In einem Dialog zwischen Kellers Figuren Hannah Arendt und Ingeborg Bachmann erklärt Arendt dieser ihre Vorgangsweise beim Verfassen ihres Buches über Rahel Varnhagen: „ich wollte sie [R. V.] auch nie entlarven, immer nur wissen, was sie selbst auch wissen konnte.“ Bachmann fasst zusammen: „Also auf Augenhöhe mit der Hauptfigur.“ Arendt erwidert: „Sogar mit ihren Augen die Welt sehen.“ Diese Haltung findet sich genau so auch bei Hildegard E. Keller in ihrer schreibenden Annäherung an Hannah Arendt. Insgesamt ist ihr damit ein eher leises und einfühlsames Portrait einer Denkerin zwischen den Stühlen gelungen, was jedoch gerade deswegen Authentizität schafft und Stärke beweist.

Titelbild

Hildegard E. Keller: Was wir scheinen.
Eichborn Verlag, Köln 2021.
576 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783847900665

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