«Ich wäre glücklich, wenn die Tonfilmseuche erlösche» – wie Victor Klemperer das Kino und sein Verbot erlebte

Mehrmals pro Woche ging der Dresdner Romanistikprofessor in den 1930er Jahren ins Kino. Regelmässig notierte der Filmliebhaber danach seine Eindrücke – ein faszinierendes Tagebuch macht sie nun zugänglich.

Cord Aschenbrenner
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Mit Fritz Langs «Metropolis» erreichte der Stummfilm Ende 1920er Jahre einen weiteren Höhepunkt. Der Tonfilm der 30er war hingegen nicht allen willkommen. Im Bild ein Berliner Kino, 1927.

Mit Fritz Langs «Metropolis» erreichte der Stummfilm Ende 1920er Jahre einen weiteren Höhepunkt. Der Tonfilm der 30er war hingegen nicht allen willkommen. Im Bild ein Berliner Kino, 1927.

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Wie es ist, nicht mehr ins Kino gehen zu dürfen, kann man seit Wochen am eigenen Leib erleben. Allerdings trifft dieses Schicksal ausnahmslos alle, und es gibt bekanntlich gute Gründe, jetzt niemanden in die Kinosäle zu lassen. Im nationalsozialistischen Deutschland hingegen blieben die Kinos sogar noch in den zerstörten Städten bis in die letzten Kriegstage geöffnet; nicht mehr hinein durften schon nach dem Pogrom vom 9. November 1938 die jüdischen Bürger Deutschlands, genauso wenig wie in die Theater, Museen und Schwimmbäder.

Zu ihnen gehörte Victor Klemperer, der Romanistikprofessor in Dresden gewesen war, bis die Nazis ihn von seinem Lehrstuhl vertrieben. Wie der begeisterungsfähige Filmliebhaber mit dem Kinoverbot umging, ist nun in «Licht und Schatten» nachzulesen, der vom Verlag mit «Kinotagebuch» untertitelten Auskoppelung aus Klemperers berühmten Tagebüchern.

Klemperer, den die Nazis nach und nach seiner Bürgerrechte beraubt hatten wie Hunderttausende anderer Bürger jüdischer Herkunft, resümierte an Silvester 1938 das Jahr, in dem er und seine Frau sich immerhin noch mit dem Auto bewegen durften, bis auch dies den Juden Anfang Dezember untersagt wurde. «Und dann von Zeit zu Zeit das Kino, das Auswärtsessen.» Alles war dem Cineasten Klemperer nun verboten, neben dem einen Zufluchtsort Kino auch der andere, die Universitätsbibliothek. Dennoch schrieb er tapfer: «Ich will nicht voreilig behaupten, dass wir bereits im letzten Höllenkreis angelangt sind.»

Victor Klemperer hegte eine damals für Universitätsprofessoren unübliche Leidenschaft für Filme.

Victor Klemperer hegte eine damals für Universitätsprofessoren unübliche Leidenschaft für Filme.

Womit er recht hatte. Ihm und seiner «arischen» Ehefrau Eva standen noch schreckliche Jahre bevor. Dank ihr, die es ablehnte, sich von ihrem «rassisch minderwertigen» Ehemann, der Jahrzehnte vorher zum Christentum konvertiert war, zu trennen, wurde Victor Klemperer nicht deportiert, sondern überlebte das «Dritte Reich» in einem Dresdner «Judenhaus». Seine Tagebücher – vor allem die aus den Jahren 1933 bis 1945 – machten ihren so scharfsichtigen wie gebildeten Verfasser nach ihrer Veröffentlichung in den neunziger Jahren postum weltbekannt.

Frühmorgendliche Kritiken

Schon bei ihrer Lektüre wurde deutlich, dass Klemperers grosse und damals für einen Universitätsprofessor ungewöhnliche Leidenschaft dem immer noch neuen Medium Film galt – neben all dem anderen, was ihn bewegte: französische Literatur, deutsche Politik, Universitätsintrigen, die Meinungen von Kollegen und Bekannten, ganz allgemein das menschliche Verhalten sowie das eigene (oftmals hypochondrische) Sein, all das also, was er oft seitenlang und fast immer mit Verve notierte und kommentierte und selber «Leben sammeln» nannte.

Natürlich gehörte auch das allmähliche, dann immer raschere Vordringen des Nationalsozialismus in jeden Winkel des Lebens dazu. Und eben die Kinobesuche des Ehepaars, oft mehrmals in der Woche, denen Klemperer abends oder am nächsten Tag mehr oder weniger lange, fast immer aber pointierte Anmerkungen folgen liess. 142 Einträge zu Filmen enthält nun «Licht und Schatten», 100 davon waren bisher im Druck unveröffentlicht. Ein Register aller erwähnten Werke steht am Ende des Bands.

Ziemlich knapp waren die Kritiken, die Klemperer 1930 an einem Augustmorgen «vor 7 Uhr» schrieb, 20 Stück hintereinander, zu Filmen, die er und seine Frau seit dem Dezember des Vorjahres gesehen hatten. Über Film Nr. 18 liest man: «Hai-Tang. Inhaltlich wieder ein Hintertreppenroman aus zaristischem Russland, Stückchen Tosca chinoise. Gouverneur, chinesisches Geschwisterpaar. Sie rettet den Bruder, indem sie sich hingibt u. dann sich vergiftet. Sie ist Anna May Wong u. spielt hervorragend. (Auch liebt sie einen kleinen Leutnant u. muss ihn verraten, um ihn u. ihren Bruder zu sichern.) – Aber leider ist dieser bestgespielte Schund nicht nur Schund, sondern auch Tonfilm, u. das gibt ihm den Rest.»

Gegen qualitativ gute Filme von der «Hintertreppe» hatte der stets vergnügungsbereite Klemperer nichts, Dünkel war ihm so gut wie fremd, aber dass es zunehmend Tonfilme waren, bereitete ihm Kummer. Am Ende seiner Fleissarbeit jenes Augustmorgens schrieb er: «Ich wäre glücklich, wenn die Tonfilmseuche erlösche. Oder wenigstens eingeschränkt würde.»

Vorsicht vor dem Rattengift

Nur langsam gewöhnten seine Frau und er sich an diese Seuche, ihr Herz schlug für Charlie Chaplin, der noch lange am Stummfilm festhielt. Für Klemperer klangen die ersten Tonfilme scheppernd und künstlich, er hielt sie für «Mist» oder «Nonsens» – das alles vor dem Hintergrund der in den zwanziger Jahren hochentwickelten Kunst des Stummfilms, durch den das bildungsbürgerliche Ehepaar filmisch sozialisiert worden war.

Aber der Tonfilm entwickelte sich weiter, und der ästhetisch anspruchsvolle Klemperer blieb nicht stehen. Im Juni 1931 schrieb er über einen Film mit dem Opernstar Richard Tauber: «Eigentlich zum ersten Mal ein wirklich guter Tonfilm.» Andere wie «Im Westen nichts Neues» und «Der blaue Engel» kamen hinzu, so dass der Professor schon bald versöhnt war. Über den Streifen «Broadway-Melodie» bemerkte er 1936: «Ein ganz und gar amerikanischer Film, durchweg Stepptanz und negroide Musik, entzückend.» In die UFA-Filme hingegen schlich sich die Ideologie ein, was der kluge Klemperer immer sofort bemerkte. «Tückisches Rattengift», notierte er über «Spiegel des Lebens», einen der letzten Filme, die er vor dem Kinoverbot 1938 gesehen hatte.

«Licht und Schatten» ist für sich genommen faszinierend, weil man den Filmliebhaber und -kritiker Klemperer in dieser Intensität als Leser der Tagebücher nicht kannte. Man kann das Buch aber auch als Einführung in die «richtigen» Tagebücher lesen. Es fehlt hier nicht Klemperers nahezu tragische, auf jeden Fall unerwiderte Liebe zu seinem meistens nicht fahrtüchtigen Auto, das das Ehepaar manchmal aber doch ins Kino beförderte. Man findet – angeregt von propagandistischen Kinowochenschauen – die ersten Gedanken Klemperers zu seiner berühmten Analyse der Sprache im «Dritten Reich», «LTI – Notizbuch eines Philologen». LTI steht für Lingua Tertii Imperii, Klemperers gelehrte Tarnbezeichnung. Und schliesslich: Klemperers intensive, bewegende Selbstbetrachtung in acht Tagen Haft im Jahr 1941. Kurz hatte er «das Empfinden Kino» selbst noch an diesem trostlos fremden Ort.

Victor Klemperer: Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929–1945. Herausgegeben von Nele Holdack und Christian Löser. Mit einem Vorwort von Knut Elstermann. Aufbau-Verlag, Berlin 2020. 363 S., Fr. 37.90.

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