Arno Camenisch geht noch einmal durch sein Dorf und schreibt eine Geografie der Schmerzen

Er ist der intime Landvermesser der bündnerischen Surselva. Nun kartografiert Camenisch sein eigenes Seelenleben.

Roman Bucheli
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In seinem neuen Buch zeigt sich der Schriftsteller Arno Camenisch von einer ganz anderen Seite. Er gedenkt darin der vielen Toten.

In seinem neuen Buch zeigt sich der Schriftsteller Arno Camenisch von einer ganz anderen Seite. Er gedenkt darin der vielen Toten.

Janosch Abel

So intim hat man Arno Camenisch noch nie erlebt. Und so nüchtern, so glasklar auch noch nie. Als hätte er es darauf angelegt, alle seine Kritiker und Bewunderer Lügen zu strafen, die glaubten, er könne nur schreiben, wie er es immer tat: etwas verschroben, genüsslich strotzend vor Klischees und in einer Kunstsprache, die im Bermudadreieck zwischen Hochdeutsch, Dialekt und Romanisch das eigene Verschwinden zelebrierte. Camenisch lesen hiess bis heute: Man bekam, was man erwartete und darum irgendwie auch verdiente.

Doch plötzlich ist alles ganz anders. Kein Romanisch mehr, auch kein Dialektklamauk, keine Sitcom mit ein paar hartgesottenen Berglern aus der Surselva, denen ein Ghostwriter die absurdeste Komik und Dialoge wie bei Beckett in den Mund legt. In «Der Schatten über dem Dorf» lernen wir einen Camenisch kennen, von dem bis dahin allenfalls eine vage Ahnung haben konnte, wer hinter dem ostentativen Witz dessen Kehrseite hinzudenken konnte: eine Melancholie, die dort am schmerzhaftesten war, wo der Humor am schrillsten nach vorne drängte.

Das Gespräch mit den Toten

«Die Welt stand still», so beginnt das neue Kapitel in Camenischs allmählich anwachsender Enzyklopädie des Verschwindens. Und gleich tappt man wie eine blinde Kuh in die Klischeefalle. Natürlich ist damit nicht die Welt der langsam sich entvölkernden Surselva gemeint, wo bekanntlich fast alles stillsteht (das kommt dann später im Buch schon auch noch). Vielmehr hat die Pandemie die Welt lahmgelegt. (Das steht hier zwar nirgends, aber so viel Phantasie darf man von Camenisch-Leserinnen und -Lesern gewiss erwarten.) Und während also die Welt innehält, kehrt der Erzähler zurück in sein Dorf, für eine Stunde oder zwei.

Er stellt den Wagen am Kiosk mit Tanksäule ab, von dem er in seinem letzten Buch erzählt hat, und geht einmal durchs ganze Dorf: hinunter zum Bahnhof, hinüber zum Haus des Grossvaters und wieder zurück, vorbei am Restaurant Helvezia, wo die «Ustrinkata» gefeiert worden war. Er begegnet auf dem Rundgang keiner Seele, spricht kein Wort, er redet mit sich – und mit den Toten. Dann steigt er wieder in den Wagen und fährt weg. Nun allerdings kommt das Seltsamste an dem Buch. Denn plötzlich wechselt die Perspektive: Man schaut aus dem Dorf dem davonfahrenden Auto nach, sieht die Rücklichter, die immer kleiner werden, bis sie schliesslich, das letzte Wort im Buch: verschwinden.

Wie schon oft zuvor endet also auch dieses Buch auf diesem Wort wie auf einer Fermate, mit der das Verschwinden sowohl besiegelt wie zugleich erzählerisch grandios dementiert wird. Für einmal aber verschwindet nicht das Dorf, nicht der Kiosk oder die Schule oder die Beiz, es verschwindet der Erzähler selbst wie in einer japanischen Tuschzeichnung der Maler. Als sei hier, am Ausgang des Dorfes und am Ende des Buches, das letzte Kapitel dieses surselvischen Fortsetzungsromans über den Untergang einer alten Zeit geschrieben worden.

Die Spuren des Lebens

Der minuziös beschriebene Gang durchs Dorf ist einerseits ein stilles Requiem auf drei Kinder, die ein gutes Jahr vor der Geburt des Erzählers am Waldrand über dem Dorf beim Spielen in einer Baumhütte verbrannt sind. Vor den Häusern, wo die Opfer gewohnt haben, gedenkt der Erzähler der Kinder, die er nicht gekannt hat, und der Eltern, die ein Leben in Trauer verbracht haben. Die Tragödie hat sich tatsächlich ereignet, im späten August 1976 geschah das Unglück, das nun zum titelgebenden «Schatten über dem Dorf» wurde, weil es die Menschen noch lange danach vor Erschütterung niederdrückte.

Aber nicht allein darum kommt der Erzähler zurück in seine Heimat. Auf dem Weg durch das kleine Dorf, 25 Häuser seien es nur, kartografiert er einen anderen Schmerz, oder besser: andere Schmerzen. Camenisch erzählt davon, wie er einmal seinen Zeigefinger zur Hälfte durchgeschnitten hat, wie er mit dem Fahrrad gegen das Postauto gefahren oder wo er in ein Auto gerannt ist. Das hat am Körper Spuren hinterlassen, anderes indessen muss er in tieferen Schichten entziffern. Denn zu den drei verbrannten Kindern kommen weitere Tote hinzu. Der Vater, ein Onkel, der Grossvater, eine Frau, mit der er zusammengelebt hat. Auf sie alle schreibt Camenisch ein stummes Epitaph in einem Buch, das gewiss das traurigste und zugleich schönste ist in seiner kleinen Universalbibliothek der verschwundenen Surselva.

Arno Camenisch: Der Schatten über dem Dorf. Engeler-Verlag, Schupfart 2021. 104 S., Fr. 27.90.