Christian Kracht erfindet immer dann am besten, wenn er aus seinem Leben erzählt

Bei kaum einem anderen Autor sind Dichtung und Wahrheit so sehr vermengt. Nun legt der Schweizer mit «Eurotrash» einen neuen Roman vor und gibt darin alles preis und nichts.

Philipp Theisohn
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Der Schriftsteller Christian Kracht ist eine Art Chamäleon. Seine beste Tarnung erlangt er dort, wo er sich ganz authentisch gibt.

Der Schriftsteller Christian Kracht ist eine Art Chamäleon. Seine beste Tarnung erlangt er dort, wo er sich ganz authentisch gibt.

Noa Ben-Shalom

Ein Sohn fährt nach Zürich, um seine psychisch wie physisch derangierte Mutter zu besuchen. Die offensichtlich schwer belastete, von Vorhaltungen geprägte Beziehung der beiden scheint unverrückbar in den Albträumen der Vergangenheit festzusitzen – bis der Sohn auf die Idee verfällt, gemeinsam mit der Mutter diese Vergangenheit nochmals zu besichtigen. Mit Rollator, Stoma-Beutel und einer mit sechshunderttausend Franken gefüllten Plastiktüte verschlägt es das seltsame Gespann auf eine Rundreise durch die Schweiz: Von Zürich geht es ins Berner Oberland, dann nach Saanen, dem Geburtsort des Sohnes, schliesslich nach Morges, wo der Vater einst ein Château gekauft hatte – und wieder zurück nach Winterthur, wo man sich in der psychiatrischen Klinik voneinander verabschiedet. Für dieses Leben.

Rasch fasst sich Christian Krachts Roman «Eurotrash» zusammen. Bisweilen verräterisch untermotiviert, von spontanen Einfällen getrieben, fliesst der Roadtrip dahin. Es fehlt nicht viel, und man könnte der Suggestion erliegen, dass hier «absolut gar nichts passiert» – wäre es nicht allzu offensichtlich, dass gerade die trügerische Ereignislosigkeit des Erzählens diese zwei Figuren gefangen hält. «Am frohsten war sie immer, wenn sie Geschichten zugehört hatte», heisst es von der Mutter. Nicht Vorliebe aber ist es, sondern ein Zwang: Froh ist man, wenn erzählt wird, froh ist man, wenn Menschen die Wirklichkeit mit Worten zurichten und servieren – weil das, was sie sonst tun, weil das, was sie diesseits ihrer Geschichten sind, ganz und gar unerträglich ist.

Sein oder Schein

So bildet das unentwegte Fingieren das Amalgam dieser Familie. Das beginnt bei den Deckerzählungen der Grosselterngeneration, deren Faschismus ein postum entdecktes Fortleben in sadomasochistischen Hinterzimmereinrichtungen findet, und hört bei der teilweise erdichteten amerikanischen Biografie des Vaters noch lange nicht auf. Dort, am Ende, steht nämlich ein Ich, das im Alter von fünfundzwanzig Jahren eine Schriftstellerkarriere aufnimmt, deren zentrale Denkachse auf der konsequenten Vermengung von Gefundenem und Erfundenem beruht. Dem Ich aber musste darüber die eigene Existenz zu einem Schemen werden.

Schon am Anfang von Christian Krachts Autorschaft, im 1995 erschienenen Roman «Faserland», wurde die Literatur zur Projektionsfläche einer Autorphantasie, die die Öffentlichkeit mit den Attributen ihrer Erzählfigur – nicht zuletzt mit der notorischen Barbourjacke – ausstaffierte. Darauf folgte ein stets von neuem faszinierendes Experiment an den Grenzen von Sein und Schein. So suchte Kracht – und hierin ist er vielleicht der einzige echte Nachfahre Conrad Ferdinand Meyers – mit Vorliebe historische Szenerien, die man nur allzu gut zu kennen glaubte: die Iranische Revolution in «1979», das Leben des in Papua-Neuguinea versauerten Kokovaren August Engelhardt in «Imperium», den Niedergang des Stummfilms in «Die Toten». Nie ging es dabei aber um das, was wirklich geschehen ist, sondern um die Verfahren, mit denen Geschichte gemacht wird.

Mit «Eurotrash» ist Krachts Schaffen an jenem Punkt angelangt, wo sich diese simulative Geschichtsschreibung auf sich selbst zurückwendet. In den Blick geraten nun der Chronist, sein Leben, seine Bücher – und bei allen durchaus sehr komischen Momenten, mit denen der Roman aufwartet, gehört dieser Blick in den Spiegel doch zu den unheimlichsten und düstersten Texten in seinem Œuvre. Wie immer bei Kracht sind es die kleinen Abweichungen von der Wahrheit, die auf tektonische Erschütterungen in der Tiefe hindeuten.

Hellhörig wird man, wenn der Erzähler ein langes und beiläufig die Schauspielkünste David Bowies streifendes Gespräch mit der Bemerkung beschliesst: «‹Lazarus› hatte David Bowie seine letzte Schallplatte genannt, sie erschien zwei Tage vor seinem Tod.» Das ist eben nur fast richtig, denn in der Tat erschien zwar zwei Tage vor Bowies Tod im Januar 2016 ein Album, auf dem es einen Song mit dem Titel «Lazarus» gab. Das Album selbst aber lief unter dem Titel «Blackstar». Warum ist das wichtig? Weil sich uns genau in solchen vermeintlichen «Fehlern» (und es ist nicht der Einzige in diesem Buch) die Eigenlogik dieser Literatur zeigt. Im Kosmos von «Eurotrash» muss Bowies letztes Album schlichtweg «Lazarus» heissen, denn das Sujet dieses Buches ist: Auferstehung.

Die Rückkehr des Totgeglaubten

Auferstehen aber soll nichts Gestorbenes, sondern eine Wirklichkeit, die schon immer gestorben war, die aus nichts als Wortschatten bestand. Dieses Ich gesteht sich ein, es «habe immer gelebt in den Träumen, in den Gespenstern der Sprache» – und meint damit sein gesamtes erdichtetes wie dichtendes Dasein. Nichts davon war je lebendig, nichts davon ankert in einem unzweifelhaften Erleben. Stattdessen: Blendungen.

So soll nun alles verwandelt, erfüllt wiederkehren. Zuerst die Mutter, die unnahbare, mit Barbituraten sedierte: Ihr ist der Roman gewidmet. Nun spricht sie, scherzt sie, wird freigebig, erscheint in einem gütigen Sinne rabiat und unternehmungslustig. Sie gibt Antwort; so viel Antwort, dass sich «Eurotrash» in einer für krachtsche Verhältnisse eher untypischen Frequenz mit Dialogen füllt. Und doch wird nach und nach deutlich, dass dieser Dialog nur einen Sprecher besitzt. Geisterhaft erfüllt der Erzählstrom die mütterliche Hülle: Noch einmal erwacht diese zerbrechliche, gebrochene Frau, und ist sie einmal ganz wach, dann legt sie die Absichten des Sohnes auch schonungslos frei. «Es werde zu einer Läuterung zwischen uns beiden kommen, hast Du gesagt, wenn Du nur in Bewegung bleiben würdest mit mir.»

Zu solcher Katharsis gehört dann auch eine zweite Auferstehung, nämlich die von Krachts «Faserland» mitsamt seinem Erzähler. 25 Jahre lang wähnte man diesen auf dem Grunde des Zürichsees. Nun ist er – der Sound verrät ihn – zurückgekehrt; immer noch beginnt er seine Romane mit «also» und beendet sie mit «bald». Aber wie erklärt man diese Wiedererweckung? Wie erklärt man, dass «Faserland» 2021 als Mutterland wiederkehrt? Der Mutter jedenfalls, die die bereits zu Topoi der jüngeren Literaturgeschichte geronnenen Motive aus «Faserland» erkennt, wird beschieden: «Ja, aber das war ja fiktiv. Dies hier ist echt.»

Damit steht man an den Wurzeln dieses Werks: Denn überall dort, wo es Echtheit behauptet, geht es ihm tatsächlich um deren Hintertreibung, um einen «effet d’irréel». So auch hier: Je vehementer dieses Ich namens «Christian Kracht» sich als Autor proklamiert, je enger und ausführlicher es sich an die biografischen Daten anschmiegt, die man gemeinhin mit einem 1966 in Saanen geborenen Schriftsteller in Verbindung bringt, umso weniger kann man sich des Eindrucks erwehren, dass hier ein Gespenst die eigene Existenz behauptet, indem es auf all die anderen Gespenster zeigt, die Krachts Bücher bewohnen.

Radikale Selbstbespiegelung

Der Geisterhaftigkeit ihrer Erzähler verdanken alle Romane Krachts sowohl ihre Inkorrektheiten wie ihre offen ausgetragene Widersprüchlichkeit, die man irgendwann einmal mit Pop verwechselt hat. Es mag seltsam anmuten, wenn «Eurotrash» gleich zu Beginn Christian Kracht in eine Vorführung von Guy Debords «In girum imus nocte et consumimur igni» schickt und wenn im weiteren Laufe des Romans Debords «Gesellschaft des Spektakels» heraufbeschworen wird, nur um den Erzähler später offenlegen zu lassen, dass er «noch nie etwas von Guy Debord gelesen habe» und ihn «so etwas» auch nicht interessiere, dass er nur «mit Bildung angeben wollte». Zur Sprache kommt hierin aber vor allem die Einsicht, dass es ohnehin in allen Biografien nur Halbwahrheiten gibt. Autofiktion ist Kracht kein literarisches Genre, sondern eine Seinsweise. Autofiktion ist die Realität.

Durchbrochen wird diese Wand routinierter Selbstbespiegelung nur noch durch Drastik. Das kann der künstliche Darmausgang der Mutter sein, der antisemitische Ausbruch des Grossvaters, der Sturz des kindlichen Erzählers in eine Glasflasche mitsamt fehlgeleiteter Notfallbehandlung. Nicht zuletzt senkt sich auch der sexuelle Missbrauch – über die Erinnerung daran werden Mutter und Sohn überhaupt wieder zu einer Sprachgemeinschaft – als ein nicht zu verarbeitendes, nur erzählerisch zu vernebelndes Ereignis in diesen Roman. Die Wirklichkeit besitzt weder Blut noch Wahrheit – weil die Wahrheit eben immer eine blutige ist.

Wer aber das verstanden hat und auch vermag, es zur Sprache zu bringen; wer mit nur wenigen Sätzen durch beiläufige Details die Gewalten sichtbar zu machen versteht, vor denen wir uns ins Erzählen flüchten; wer noch auf dem Flur der Winterthurer Psychiatrie, dort, wo die tatsächlich rührende letzte Zwiesprache mit der Mutter sich begibt, die unerbittliche afrikanische Sonne scheinen lassen kann: Der ist ein metaphysischer Romancier. Vielleicht: der letzte grosse metaphysische Romancier dieser Zeit.

Christian Kracht: Eurotrash. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 224 S., Fr. 31.90.