Christina von Braun: "Geschlecht"

Porträt einer Generation

06:10 Minuten
Das Cover von "Geschlecht"
Angenehm unprätentiös schildert die Autorin ihre berühmte Familie, sagt unsere Rezensentin. © Cover: Propyläen Verlag / Collage: Deutschlandradio
Von Maike Albath · 06.03.2021
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Filmemacherin Christina von Braun erzählt anhand ihrer berühmt-berüchtigten Familie und ihres ungewöhnlichen eigenen Lebens von der weiblichen Selbstermächtigung einer ganzen Generation. Eine aufschlussreiche Autobiografie, sagt unsere Rezensentin.
Auch wenn der Titel so klingt: Nein, dieses Buch ist keine feurige Erwiderung auf Simone de Beauvoirs sozialgeschichtliches Grundlagenwerk "Das andere Geschlecht" von 1949, und es liefert auch keine theoretische Positionsbestimmung.
Die Filmemacherin, Autorin, Kulturwissenschaftlerin und Gründungsdirektorin der Gender Studies an der Berliner Humboldt-Universität Christina von Braun spielt aber trotzdem mit Simone de Beauvoirs Überlegungen zum weiblichen Selbstverständnis und unternimmt in "Geschlecht" den Versuch einer autobiografischen Vergewisserung. Was hat sie geprägt? Wieso traf sie bestimmte Entscheidungen und andere nicht? Wie hat sie sich zu dem gemacht, was sie heute ist?

Geprägt von den Frauen der Familie

Die Bedeutung des Titels ihrer Spurensuche changiert, denn es handelt sich auch um die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft. Angenehm unprätentiös schildert die Autorin ihre berühmte Familie, zitiert aus Briefen und Notizbüchern und benennt offen Brüche.
1944 in Rom geboren, wo ihr Vater Botschafter im Vatikan war, verbrachte Christina von Braun ihre ersten Jahre in Italien, das für sie ein Kindheitsparadies bleiben sollte. Im Unterschied zu ihrem Onkel, dem Raketeningenieur Wernher von Braun, waren die Verwicklungen ihres Vaters in den NS-Staat marginal, weil er in den USA studiert hatte, später ausschließlich im Ausland arbeitete und sein Amt nutzte, um Verfolgten zu helfen.
Stärker als auf ihre Mutter, die vor allem die Frau an der Seite eines Diplomaten war und immer wieder unter Depressionen litt, beruft sich Christina von Braun auf ihre Großmutter, eine Erfolgsautorin, Unternehmerin und beeindruckend emanzipierte Person. Den Verlust der ostpreußischen Güter ihrer väterlichen Familie sieht die Autorin als Chance, denn nur so konnten sie, ihre Schwestern und ihr Bruder sich aus dieser Genealogie lösen.

Eine aufschlussreiche Autobiografie

Ihr Umfeld war zunächst durch und durch bürgerlich, die Erziehung dank ihrer Eltern kosmopolitisch: Sie ging als Kind eine Zeit lang in England zur Schule, lebte nach dem Abitur bei ihren Eltern in New York und war dann bis in die frühen 1980er-Jahre in Paris zu Hause. Vignetten etlicher Freunde blitzen auf, und es fällt auf, welche Bedeutung Christina von Braun Beziehungen einräumt – sie sind die Voraussetzung für ein gelingendes Leben.
Aufschlussreich ist die Lektüre dieser Autobiografie auch deshalb, weil die Autorin die Bedingungen für Veränderungen mit reflektiert. Diese sind nicht nur gesellschaftlicher Natur, sondern auch privater: Der Ehemann, mit dem sich die Aufgabenteilung bei der Kinderbetreuung verhandeln ließ, war ebenso wichtig wie aufgeschlossene Fernseh-Redakteure und später Kolleginnen, mit denen neue Studiengänge entworfen werden konnten.
Schließlich liefert "Geschlecht" auch ein Porträt der Bundesrepublik – ein provinzielles Land kommt zum Vorschein, über dem der Mehltau der Verdrängung lag. Dass die Geschlechterfrage für Christina von Braun ab den 1970er-Jahren an Bedeutung gewann, erklärt sie über ihre Affinität zur bildenden Kunst. Nach und nach bewegte sie sich vom Film hin zu Büchern. Zentral ist die Erfahrung einer Psychoanalyse. Schließlich liefert die Verfasserin einen Überblick über die Themen, die sie in den letzten Jahren umgetrieben haben. "Geschlecht" erzählt damit von weiblicher Selbstermächtigung einer ganzen Generation.

Christina von Braun: "Geschlecht. Eine persönliche und eine politische Geschichte"
Propyläen Verlag, Berlin, 2021
368 Seiten, 24 Euro

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