So viel George Orwell gab es noch nie!

Dieser Tage erscheint eine Flut von Orwell-Neuübersetzungen. Sie rufen in Erinnerung, wie nah und fern «1984» zugleich ist.

Werner von Koppenfels
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George Orwell (1903-1950) ist seit über siebzig Jahren tot, und trotzdem ist er der Autor der Stunde (undatierte Aufnahme).

George Orwell (1903-1950) ist seit über siebzig Jahren tot, und trotzdem ist er der Autor der Stunde (undatierte Aufnahme).

Photopress-Archiv / AP / Keystone

Wir leben – alle sagen es, also muss es stimmen – in Orwellschen Zeiten. Wie wird einem da zumute, wenn man nach Jahrzehnten den antitotalitären Klassiker «1984» wiederliest – und dazu auszugsweise noch die sechs gleichzeitig bei DTV, Insel, Manesse, Reclam, Nikol und Anaconda publizierten Neuübersetzungen? Eines ist sicher: Der Schauerroman, in den diese längst zum populären Mythos mutierte Politsatire eingekleidet ist, tut immer noch seine Wirkung. Für Winston Smith, den «letzten Menschen in Europa», so der alternative Titel, gibt es keine Chance im ungleichen Kampf mit der totalen Staatsmacht. Heute wie damals gerät der Leser unrettbar in den Sog des diabolischen Finales.

Doch einige Fragen drängen sich auf. Ist die Welt von «1984» wirklich noch, oder wieder, die unsere? Worin liegt der literarische Mehrwert der neuen Versionen? Und gibt es vielleicht neben der Aktualität noch andere Gründe für den derzeitigen Übersetzungboom, der übrigens für alle genannten Verlage ausser Insel auch die auf den ersten Blick weniger zeitgemässe «Farm der Tiere» einschliesst? Die letzte Frage ist am leichtesten zu beantworten. Nach gültigem Copyright wird das Werk eines Autors siebzig Jahre nach seinem Tod lizenzfrei. Orwell starb nach Abschluss seines berühmtesten Buches 1950 im Alter von 46 Jahren an Tuberkulose. Ach so.

Beinharte Struktur

Die anhaltend starke emotionale Wirkung von «1984» lässt das Reissbrettartige der Anlage leicht übersehen, deutlich abzulesen an seiner triadischen Struktur. Der dreiteilige Roman hat drei Hauptfiguren: Winston, seine Geliebte Julia, Rebellin «von der Taille abwärts», und O’Brien, den falschen Vertrauten, der sich als Grossinquisitor entpuppt. Die Geschichte spielt in Ozeanien (England + Amerika), das entweder mit Eurasien (Europa + Russland) oder mit Ostasien (China + Japan) andauernd Krieg führt, ohne die Feinde jemals zu besiegen.

Das totalitäre, pseudosozialistische System Ozeaniens bildet eine starre Dreiklassengesellschaft, bestehend aus der Machtelite der Inneren Partei, den ausführenden Organen der Äusseren Partei und einem durch den Krieg als Selbstzweck und durch gezielte Mangelwirtschaft abgestumpften Proletariat. Selbst die finale, Elektroschock-gestützte Gehirnwäsche alias «Reintegration» des Helden erfolgt in drei Phasen, zynisch als Lernen, Verstehen und Akzeptieren benannt.

Wie bei Orwells Vorbild Swift bedingen der Schematismus des Plots und narrativer Sarkasmus einander nach dem Gesetz der Satire. Aber wie weit lässt sich diese beinharte Struktur in ihrer Zeitbedingtheit auf unsere Gegenwart übertragen? Hinter der Barttracht des allgegenwärtigen Grossen Bruders steckt bekanntlich nicht nur Stalins Schnauzbart, sondern auch das Hitlerbärtchen und damit der Terror von Schauprozessen, Hetzpropaganda und Lagersadismus auf beiden Seiten. Als O’Brien dem misshandelten Winston im Folterkeller des «Ministeriums für Liebe» den Spiegel vorhält, erscheint darin ein Ecce-Homo als ausgemergelte, gemarterte KZ-Gestalt.

Ort der Handlung ist das bei aller Verfremdung unverkennbare London der Kriegs- und Nachkriegszeit mit viel Schmutz, Versorgungsengpässen, V2-ähnlichen Raketen-Bombardements – und einer Statue des Grossen Bruders auf der Nelson-Säule. Wie immer bei Orwell ist das biografische Substrat wichtig, etwa seine Erfahrung des stalinistischen Verrats im Spanischen Bürgerkrieg oder sein Einblick in die Propagandamaschinerie der BBC. Nicht anders als die Rebellen Winston und Julia lebt der lungenkranke Autor unter dem Verhängnis eines bereits verfügten Todes, während er im Zeichen des Kalten Krieges auf einer denkbar zugigen Hebrideninsel letzte Hand an sein letztes Buch legt. Winstons Hustenanfälle sind auch die seinen.

Zukunft – oder Vergangenheit?

Technologisch stehen wir am Anfang der TV-Epoche. Durch einen Science-Fiction-Trick macht Orwell den Bildschirm nicht nur zum Mittel grenzenloser Propaganda, sondern auch zum Instrument einer lückenlosen Überwachung: Das Gerät ist nicht mehr abschaltbar, denn der allmächtige Grosse Bruder will alles und jeden zu jeder Zeit sehen. Diesem Doppelthema von Manipulation und Überwachung verdankt «1984» seine derzeitige Popularität, wobei die prophetischen Qualitäten des Buches möglicherweise überschätzt werden. Denn als Vision vom Endzustand einer in den autoritären Regimen der Gegenwart gängigen Repression und des fatalen Irrationalismus der (a)sozialen Medien taugt Orwells Horrorstory nur bedingt. Die staatlichen Slogans «Freiheit ist Sklaverei» oder «Unwissenheit ist Stärke» wirken reichlich plump im Vergleich zur euphemistischen Eleganz von «illiberaler Demokratie» und «alternativen Fakten».

Auch die bis in den engsten Familienkreis hinein grassierende Denunziation gehört einer spezifischen Vergangenheit an. Die Brutalität des Unterdrückungsapparates erinnert an die Zeiten, als der lange Arm des Grossen Bruders im Kreml dem abtrünnigen Trotzki (Vorbild für Orwells Erzketzer Goldstein) in Mexiko den Schädel einschlagen liess, und nicht so sehr an die Ära von Nowitschok. Der Aufruf zur zeitgerechten Mobilmachung erreicht einen kuriosen Höhepunkt, wenn der Manesse-Verlag sein «1984» mit dem Angela-Merkel-Zitat «Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht» bewirbt.

Andrerseits sollte man auch die Art, wie Robert Habeck, Chef der deutschen Grünen, im Vorwort zur neuen DTV-Ausgabe von Lutz-W. Wolff die Warnungen des Buches auf den Nägeln brennen fühlt, nicht als irrelevant abtun. Vielleicht nimmt ja die im Roman vollzogene Entkoppelung Britanniens von Europa bereits den Brexit voraus.

Schwerer tun sich die Aktualisierer mit der «Farm der Tiere». Ilija Trojanow erklärt in seinem Vorwort, ebenfalls bei DTV, im Dialog mit einem Esel auf Orwells Hebrideninsel dem heutigen Leser das folgenreiche Debakel der russischen Revolution. Andere Kommentatoren verweisen auf die Tierliebe und das ökologische Engagement des Autors.

Vielfalt mit Grenzen

Als leidenschaftlicher Journalist schreibt Orwell, um weithin gelesen und verstanden zu werden. Gute Prosa vergleicht er einmal mit der Transparenz von Fensterglas: Experimentelle Verstiegenheit ist seine Sache nicht. Schon der Titel «1984» zeichnet sich ja durch optimale Übersetzbarkeit aus; und die Neuprägungen des Ungeistes, wie Gedankenpolizei, Neusprech oder Doppeldenk, konnten mühelos ins Deutsche hinüberwandern.

Dabei begann die Übersetzungsgeschichte von «1984» mit Kurt Wagenseils Version 1951 wenig verheissungsvoll, nicht zuletzt, weil er den «blue overall» der ozeanischen Parteiuniform als «blauen Trainingsanzug» eindeutschen zu müssen meinte – trotz der täglichen Zwangsgymnastik vor den Teleschirmen eine absurd sportliche Note. Erst 1984 (!) machte die zuverlässig textnahe Übertragung von Michael Walter daraus einen «blauen Overall». Sie ist noch im Handel, seit kurzem mit einem Nachwort-Update von Daniel Kehlmann versehen.

Die (zum Teil prominenten Übersetzern und ebensolchen Vor- oder Nachwortschreibern anvertrauten) Neuübertragungen von «1984» lesen sich allesamt gut und flüssig, wenn sich auch die stilistische Varietät in überschaubaren Grenzen hält. Dasselbe gilt für die «Farm der Tiere» im obligaten Schlepptau. Bei dem Slogan «Big Brother Is Watching You» beispielsweise hat man die Wahl zwischen den Übersetzungen «Der Grosse Bruder sieht dich / sieht dich an / beobachtet dich / wacht über dich / hat dich im Blick»; und die Angehörigen der ozeanischen Unterschicht heissen «Proletarier / Proleten / Proles / Prolos / Prolls».

Allenfalls bei den als sprachliche Farbtupfer brillant eingesetzten Cockney-Passagen und bei den lyrischen Leitmotiven wird es kritisch. Die meisten Versionen behelfen sich – wer kann es ihnen verargen? – mit einem verwaschenen Grossstadt-Idiom nach dem Muster «Na klar, sach ich, so isses» und reimen, so gut es geht. Gisbert Haefs (Manesse), der schon vor dreissig Jahren in seiner grossen Kipling-Ausgabe mit beiden Problemen zu kämpfen hatte, bleibt dagegen schriftdeutsch und lässt die Gedichte englisch sein.

Doch wenigstens ein rühmenswertes Detail sei nicht unterschlagen. Winstons Kollege Syme, der mit dem Eifer des intellektuellen Renegaten an der Verarmung seiner Muttersprache arbeitet, ist von Beruf «philologist», was alle Übersetzer ungenau mit «Philologe» wiedergeben – ausser Lutz-W. Wolff. Er erkennt, dass es sich bei diesem Sprachexperten um einen Linguisten handelt. Seine idiomatisch treffsichere und vorzüglich kommentierte Neufassung von «1984» dürfte auch sonst unter all den guten die beste sein.

Ungehobene Schätze

Der Diogenes-Verlag, bisher Inhaber der deutschsprachigen Rechte und auch mit vielen anderen Orwell-Titeln im Programm, hat sich bei diesem Marathon der Neuübersetzungen vornehm zurückgehalten. Im Übrigen spornt offenbar die 30-teilige englische Werkausgabe von Peter Davison, deren letzter Band 2006 erschien und die viele auf Deutsch ungehobene essayistische Schätze birgt, den Einfallsreichtum und die Risikofreude unserer Verlage keineswegs an. «Essays gehen halt nicht hierzulande», hört man dazu von einer Kennerin der Branche; Pech für einen Autor, der nicht nur nebenberuflich ein Journalist erster Güte war.

Dazu passend das Einerlei der Titelbilder zu «1984»: ob im Dreieck, in der Ellipse oder im Kreis, immer nur das Auge des Grossen Bruders – und bei der «Farm» dann die Schweinchen-Variationen. Ein berühmtes Wort Shakespeares aus etwas anderem Zusammenhang charakterisiert den Orwell-Overkill dieser Tage am besten: «expense of spirit» – «expense» hier in der alten Bedeutung von Verschwendung.

George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Nachwort von Mirko Bonné. Manesse-Verlag, München. 446 S., Fr. 30.90. – Aus dem Englischen neu übersetzt, mit einem Nachwort, Anmerkungen und einer Zeittafel von Lutz-W.Wolff. Mit einem Vorwort von Robert Habeck. DTV-Verlagsgesellschaft, München. 415 S., Fr. 32.50. – Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Insel-Verlag, Berlin. 382 S., Fr. 30.90. – Aus dem Englischen neu übersetzt von Jan Strümpel. Anaconda-Verlag, München. 400 S., Fr. 11.90. – Aus dem Englischen von Simone Fischer. Nikol-Verlag, Hamburg. 390 S., Fr. 12.90. – Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Holger Hanowell. Verlag Philipp Reclam jun., Ditzingen. 439 S., Fr. 12.90.

George Orwell: Farm der Tiere. Ein Märchen. Mit dem Essay «Die Pressefreiheit» und dem Vorwort zur ukrainischen Ausgabe von 1947. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Nachwort von Eva Menasse. Manesse-Verlag, München. 190 S., Fr. 25.90. – Aus dem Englischen neu übersetzt, mit einem Nachwort, Anmerkungen und einer Zeittafel von Lutz-W. Wolff. Mit einem Vorwort von Ilija Trojanow. DTV-Verlagsgesellschaft, München. 192 S., Fr. 26.90. – Aus dem Englischen neu übersetzt von Heike Holtsch. Anaconda-Verlag, München. 141 S., Fr. 8.90. – Aus dem Englischen von Simone Fischer. Nikol-Verlag, Hamburg. 115 S., Fr. 9.90. – Aus dem Englischen übersetzt mit einem Nachwort von Hans-Christian Oeser. Verlag Philipp Reclam jun., Ditzingen. 143 S., Fr. 6.90.

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