Boboisierung in Berlin

Enno Stahl über soziale Stadtveränderungen in „Sanierungsgebiete“

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tourismus, Liberalisierung und Gentrifizierung sorgen dafür, dass die soziale Struktur großer Städte Europas und der Welt starken strukturellen Veränderungen unterliegt. Das Phänomen lässt sich wie folgt beschreiben: die Aufwertung eines Stadtteils durch dessen Sanierung oder Umbau mit der Folge, dass die dort ansässige Bevölkerung durch wohlhabendere Bevölkerungsschichten verdrängt wird. Geringverdiener und sozial Schwache werden gezwungen, in preisgünstigere Wohnviertel zu ziehen. Auch die sozialen Gruppen, die die Viertel einmal mit ihrem unkonventionellen Denken und Handeln attraktiv gemacht haben – Künstler, Kreative und Studierende – müssen kapitalstärkeren Schichten weichen. Auch wenn Gentrifizierung ein globales Problem darstellt, so gehört seit den 1990er Jahren Berlin zu den Metropolen, die vom Verkauf des städtischen Wohnraums an Finanzriesen und Wohlhabende am stärksten betroffen ist. 

Wie ein relativ plausibel zu erklärender Vorgang aus dem Ruder laufen konnte, ist zum Thema von Enno Stahls Roman Sanierungsgebiete geworden. Die Prozesse der Gentrifizierung und Verdrängung, die längst zum politischen Schlagwort geworden sind, exemplifiziert Stahl literarisch am Beispiel der Berliner Rykestraße (Nähe Kollwitz-Platz) und ihrer Bewohner. Die Handlung spielt im Jahre 2009. In der Realität wurde 2009 die Sanierungssatzung durch den Berliner Senat aufgehoben, denn die Sanierungsziele seien erreicht worden. Der Plot des Romas lässt diesen Satz als eine die Bewohner verhöhnende Farce erscheinen. Es liegt also auf der Hand, dass der Roman im Verbrecher Verlag erschien, dem der Ruf eines politisch engagierten Verlags vorauseilt. Es ist bereits der fünfte Band Stahls bei diesem Verlag, der sich einer deutlichen Form von Gesellschaftskritik annimmt.

Stahl baut seine Geschichte um vier Personen auf: die angehende Architektin Lynn, die (Chef)Redakteurin einer Gewerkschaftszeitschrift Donata Finkenstein, den Altlinken, allen politischen Systemen gegenüber kritisch eingestellten Otti Wieland und die Biologiestudentin Oksana. Nach und nach werden die bereits existierenden und die neuen Beziehungen unter den vier Protagonisten entwickelt. Sie haben vieles gemeinsam. Das Bedeutendste ist dabei, dass sie alle in der Rykestraße im Prenzlauer Berg wohnen und dass sie alle das Thema der Gentrifizierung privat, beruflich oder wissenschaftlich umtreibt. Lynn, deren Mutter, eine gut verdienende Düsseldorfer Anwältin, ihr eine Wohnung in der Rykestraße gekauft hatte, wählt das Thema der Sanierungsgebiete am Prenzlauer Berg zum Gegenstand ihrer Diplomarbeit an der TU Berlin. Donata setzt sich in ihren Texten mit den Fehlern und Versäumnissen der Berliner Wohnungspolitik auseinander. Otti, selbst Gentrifizierungsopfer, aber auch Philosoph, Klassenkämpfer, Sozialist und Buchautor, schafft mit seiner linken Zeitschrift, in der das Thema der sozialen Ungerechtigkeit in Berlin an vorderster Stelle steht, eine Gegenöffentlichkeit. Er plant mit einer Gruppe von Gleichgesinnten, einer „autonomen Zelle“,Anschläge auf gentrifizierte Häuser und Luxuslimousinen, um die breite Öffentlichkeit auf die Spekulationen der Finanzriesen, die Luxussanierungen und die perfiden, menschenunwürdigen Entmietungsstrategien, die die sozial Schwächeren an die Randgebiete verbannen, aufmerksam zu machen. 

Der Roman ist nach den Konventionen eines analytischen Realismus verfasst worden; das bedeutet, zum einen gibt es einen Erzähler, der aus der jeweiligen Sicht der Figuren ihre Geschichten erzählt, zum anderen werden dokumentarische Elemente in den Text eingebettet. Die reine Erzählstruktur wird durch eingefügte Sachtexte, Zeitungsartikel, Vorlesungsmitschnitte, Redemanuskripte, Blogbeiträge, Referate und Archivdokumente aufgebrochen. Lynn führt zahlreiche Interviews mit Architekten, Stadtplanern, Betroffenen, Bürgerinitiativen, die ebenfalls Realitätsanspruch erheben. Damit entwickelt der Autor einen Modus, in dem das Problem aus verschiedensten Perspektiven beleuchtet wird. Die Erlebnisse und Handlungen der Figuren spiegeln ebenfalls auf ihre jeweils eigene, subjektive Art und Weise das Thema. Die Sachtexte fügen dem Roman eine wichtige Reflexionsebene hinzu, dank der das Thema seine tatsächliche Komplexität erhält und in marktwirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen kontextualisiert wird. Stahl deutet die Veränderung, die in den Metropolen der Welt (im Roman: Berlin) stattfindet, als Ausdruck globaler Konflikte und Verteilungskämpfe des 21. Jahrhunderts. Die Handlungen der Figuren wie auch die Inhalte der Sachtexte kreisen stets um die Fragen nach bezahlbarem Wohnen, das eigentlich ein Menschenrecht ist, nach dem guten Nebeneinander und Miteinander in den großen Städten und nicht zuletzt nach den Kulturen der Zukunft.

Stahl schildert Schritt für Schritt, wie radikale militante Widerstandsbewegungen entstehen, die Wut über die Ungerechtigkeit in Politik zu verwandeln versuchen, indem Flugblätteraktionen, Brandstiftungen in Treppenhäusern, an Luxusautos und an Baustellen vorbereitet werden. Mit Hilfe der zunächst nur en passant skizzierten Geschehnisse wird nach und nach deutlicher, warum zu immer drastischeren Maßnahmen gegriffen wird. Die Konflikte spitzen sich zu, radikal demokratische und emanzipatorische Kräfte schreiten zum Handeln und fordern auch gewaltsam Gerechtigkeit und Gemeinschaft, einen ökologischen und lokalen Kapitalismus, der anders als der globale Kapitalismus funktioniert. Die Figur Otti bewegen Fragen nach der Funktionsweise von Demokratie und der Bedeutung von Eigentum. In seiner Auffassung entrechtet der Markt jene Bürger, die eigentlich in der Mitte der städtischen Gesellschaft stehen: die arbeitende Bevölkerung. In der einsetzenden Boboisierung des Viertels sieht Otti eine eindimensionale, auf Lifestyle und Konsum konzentrierte Existenzform. „Die Bourgeois-Boheme sind also Leute, die ein gutes Einkommen haben, die so bürgerlich verdienen, aber gerne Boheme sein möchten“, also Besserverdiener oder reichere Erben, die aber keine Künstler oder Andersdenkende sind, dafür aber „in den Cafés sitzen mit aufgeklappten Laptops, vor sich einen Latte Macchiato, und wahnsinnig beschäftigt sind“. Donata will durch ihre journalistische Tätigkeit herausfinden, welche Verantwortung die Politik für den Städtebau, die Wohlfahrt der Bevölkerung, das städtische Wohnen und den Milieuschutz trägt. Für sie ist dabei der Begriff der Öffentlichkeit von entscheidender Bedeutung. Sie sieht in der Politik Öffentlichkeit, denn ohne Öffentlichkeit kann keine Gesellschaft oder Gemeinschaft richtig funktionieren. Dies ist auch der Grund, warum sie sich schließlich auch beruflich parteipolitisch engagieren will und zur Pressereferentin eines Politikers wird. Donata geht in ihrem journalistischen Engagement gegen die Privatisierung von Öffentlichkeit vor. Das Verdrängen der alteingesessenen Bewohner, das Schließen von angestammten Läden, Kneipen, Treffpunkten betrachtet sie als politisches Problem, als ein Beispiel dafür, wie der Kapitalismus der Demokratie schadet. Lynn beschäftigt sich in ihrer Diplomarbeit mit dem Gegenstand „Gemeinschaft und Wirtschaft“, sie analysiert das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. In einem Vortrag reflektiert sie das Thema beinahe in Form eines Manifests: 

Das Recht auf Stadt ist nichts anderes als das Recht auf ein städtisches Leben, das nicht überall eingehegt wird durch den Bedarf und die Regularien privaten Eigentums. Wir wollen die Stadt wieder als einen Ort der Produktion von Leidenschaft, Netzwerken und Wissen realisieren, als eine Stätte von Möglichkeiten und Alternativen, von echten, humanitären Visionen und Utopien.

Für Lynn ist die Stadt der Ursprungsort von Demokratie und der Ort der Utopien, aber die Stadt beschreibt gerade auch die Veränderungen in der Demokratie. Das allerdings, was die Gentrifizierung an negativen Auswirkungen auf das städtische Leben mit sich bringt, wird als Gegenteil des utopischen Gedankens von Stahl in den Roman eingeführt, es sind dystopische Szenen von Selbstmorden durch Gasaufdrehen, Bedrohung durch Schlägerbanden, das Einstellen der Versorgung mit Wasser, Elektrizität und Heizung, Drohbriefe und tagtägliche Einschüchterungen.

Stahl erhebt in seinem Roman nicht den Anspruch, eine Antwort auf die vielen Fragen zu liefern, aber er schafft ein Diskussionsfeld und bietet seiner Leserschaft ein breit gefächertes Material zur kritischen Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Fragen der globalen Gegenwart an.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Enno Stahl: Sanierungsgebiete. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2019.
591 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783957324054

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