Als man in Leningrad die Toten in bunte Tücher hüllte: Polina Barskova beschreibt den Horror der Weltgeschichte – mit seiltänzerischem Gespür für Sprache und Schrecken

Die 1976 geborene Lyrikerin erzählt von sich und der Belagerung im Krieg.

Franz Haas
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Luftabwehrkanonen vor der Isaaks-Kathedrale in Leningrad, 1941.

Luftabwehrkanonen vor der Isaaks-Kathedrale in Leningrad, 1941.

Die deutsche Blockade von Leningrad (1941 bis 1944) war neben der Shoah eines der grössten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bei dem mehr als eine Million Menschen durch Hunger, Krankheit und Kälte ums Leben kamen. Es war ein Massaker ohne Anwesenheit der Massenmörder in der Stadt. Das Trauma der Bevölkerung wurde von der sowjetischen Heldenpropaganda lange Zeit übertüncht, und erst spät verschafften sich literarische Stimmen dazu Gehör, wie Lidia Ginsburg in ihren «Aufzeichnungen eines Blockademenschen» über jene Zeit und ihre gepeinigten Individuen, als Hitlers Aggression sich zu Stalins Terror gesellte.

Was die Belagerung mit den Menschen und der Stadt machte, das beschreibt auch die Nachgeborene Polina Barskova in ihrem schillernden Buch «Lebende Bilder», in kurzen, stachelig poetischen Prosastücken und einem schreckensstarren Dramolett. Die 1976 geborene russische Dichterin ging als Studentin in die USA, wo sie heute Universitätsdozentin ist, aber sie sieht sich immer noch als «ein Ziehkind der Leningrader Literaturszene», die ständig durch diese Texte geistert.

Bestürzende Memoiren

Ein Wunder an Frühreife, publizierte Barskova ihren ersten Gedichtband mit 15 in den Fussstapfen der Avantgarden ihrer Stadt. Als Philologin erforschte sie in Archiven unbekannte Blockade-Tagebücher und schrieb dazu Studien wie «Schwarzes Licht. Die Dunkelheit im belagerten Leningrad». Diese bestürzenden Memoiren brachten die Lyrikerin dazu, es mit der Prosa zu versuchen, und so entstanden die meisten Texte des Bandes «Lebende Bilder». In diesen wimmelt es von Zitaten und Anspielungen auf die Literatur ihrer Heimatstadt, wenn ein verletztes Ich viel Intimes von sich selbst preisgibt und immer wieder auf die nie ganz verheilte Wunde von Leningrad zurückkommt, wenn «das Grauen der Blockade sich mit der autofiktionalen Grauzone privater Leiden mischt», wie ihre treffliche Übersetzerin Olga Radetzkaja schreibt.

Der titelgebende Text (nicht der beste der Sammlung) ist ein Dramolett über den Todeskampf zweier Liebenden, der Kunsthistorikerin Antonina Isergina und des wesentlich jüngeren Malers Moissej Waxer (die es wirklich gab), die in der Gemäldegalerie der Ermitage auszuharren versuchen bei Hunger, Kälte und Wahnsinn. Sie stellen bereits evakuierte Gemälde von Rembrandt als «lebende Bilder» nach; ihre Gespräche drehen sich um die Liebe, um «Ekzeme, Skorbut und blutigen Durchfall», um Verhaftungen durch Stalins Geheimpolizei, um die im verzweifelt zynischen Blockade-Jargon sogenannten «Wickelpuppen» – die Toten auf den Strassen, die in bunte Tücher gewickelt werden, damit die Leichensammler sie leichter finden.

Die Dialoge dieses Stücks sind von einer schreienden Schmucklosigkeit, bohrend und elementar, wobei Polina Barskova ihr sprachliches Raffinement nicht so gut ausspielt wie in den meisten Prosatexten des Bandes. Auch in diesen ist das Blockade-Thema oft präsent, aber immer zieht ein Ich die Erzählfäden, ein Ich, das in Archiven stöbert und «all diese Stimmen» sammelt, Eintragungen in den vergessenen Tagebüchern aus «der schwarzen Zeit des Todes». Es erzählt von «Blockadewitzen», von den durch Skorbut entstellten «Affengesichtern», vom Tellerlecken und Weinen, von der Scham der Überlebenden, die das Erlebte «wie eine perverse Tat» empfinden.

Der erste Abschnitt dieser Texte trägt den Titel «Der Vergeber». Gemeint ist damit Primo Levi, der mit diesem hämischen Wort von einem Freund beschimpft wurde, weil er nicht die Kraft hatte, seine Peiniger zu hassen. Doch Leningrad ist nicht Auschwitz, denn die Schinder waren nicht anwesend: «Aber wem vergeben? Der eisigen Stadt?» – Und die abschliessende Kapriole des autofiktionalen Ichs (mit dem Kosenamen Polja) führt direkt ins schmerzhaft Persönliche, wenn die Erzählerin als «Vergeberin» auftritt und in Gedanken zu einem lieblosen Geliebten sagt: «Bald werde ich dir vergeben.» Solche Bocksprünge vom Horror der Weltgeschichte zum Herzeleid in der eigenen Lebensgeschichte gingen gewiss daneben, hätte die Autorin nicht ein so stupendes, seiltänzerisches Gespür für Sprache und Schrecken.

Auch in anderen Prosastücken bringt Polina Barskova ihre eigene Biografie ein, die Kindheit («Beinahe Glückseligkeit») in der Sowjetunion zwischen Pionierlager und intellektuellem Elternhaus – Vater wie Stiefvater waren bedeutende Köpfe. Und immer wieder geraten ihre Gedanken in den Sog der Vergangenheit, die sie in Bibliotheken und Archiven aufspürt, wie die Blockade-Tagebücher der Künstlerbrüder Michail und Jakow Druskin. Die waren mit Schostakowitsch befreundet und mit Daniil Charms, der 1942 im Gefängnis verhungerte. Von Suppe aus Hundefleisch ist in diesen Aufzeichnungen die Rede und von der himmlischen Musik Bachs.

Launiges und Offenes

In anderen Texten von Barskova geht es nur um Privates aus dem Leben der Erzählerin in den USA: scharfsinnig Launiges über ihre Einbürgerung dort, verblüffend Offenes über ein sadomasochistisches Verhältnis mit einem viel älteren, nun todkranken Mann. Bald springen die Gedanken «ins leere, sonnige Kalifornien», bald ins neuere Sankt Petersburg, zum «Tod des Herzallerliebsten», nach dessen Verkehrsunfall die 19-Jährige ihren Schock bei der lebensklugen Grossmutter in Sibirien überwand.

Die Glanzstücke der Sammlung «Lebende Bilder» finden sich in dem Abschnitt «Laubriss», liebevoll böse Beobachtungen zur Leningrader Literatur und zu ihren «drittklassigen, unwichtigen Wortfriseuren». Es geht dabei vor allem um das «Duell der Geschichtenerzähler» Witali Bianchi und Jewgeni Schwarz, populäre Kinderbuchautoren und Naturspezialisten, Überlebende der Naziblockade und des Stalin-Terrors. Scharfsinnig zerpflückt Polina Barskova deren Werke, bedauert aber, dass ihre Tagebücher keine Leser fanden. Vor allem Bianchi ist für sie «der hellhörigste und systematischste Beschreiber» der Belagerung, dieser wiederum «zitiert Schwarz als einen der grössten Witzemacher der Blockade».

Bianchi schrieb zwar «ein miserables Gedicht», nachdem er aus der belagerten Stadt entkommen war; «er verplapperte sich», meint Barskova gnadenlos, aber in seinem Tagebuch machte er Leningrad «lebendig – wie ein Schaukasten im Museum». In ihrer amerikanischen Universität träumt die Erzählerin unerbittlich von guten und schlechten Vogelgedichten, sie denkt an ihre einst gemarterte Heimat, an die «mit seelischen Geschwüren übersäte Generation». Mit Empathie und in virtuos trippelnder Sprache räsoniert sie über «läppische Märchenerzähler» und über die Zeit, als «Leningrader Wort- und Überlebenskünstler» den Verstand verloren.

Polina Barskova: Lebende Bilder. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2020. 222 S., Fr. 34.90.

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