Er war kein Mitläufer der Nazis, aber er war auch kein Widerständler. Er schaute bloss genau hin

Der Schriftsteller Hermann Stresau überstand den Krieg in der inneren Emigration. In seinen Tagebüchern schlugen sich die Ereignisse in präzisen Beobachtungen nieder.

Paul Jandl
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Wer auch immer einen Blick auf die Biografien wirft, in denen sich die Zeit des Nationalsozialismus spiegelt, der hat mit Symptomen zu tun, in denen die Dinge kulminieren. Mit den Lebensgeschichten von Opfern oder Tätern. Ein Dazwischen gibt es kaum, und wenn die Landkarten der inneren Emigration immer noch zu zeichnen sind, dann braucht es Kartografen wie jenen Berliner Schriftsteller und Bibliothekar, der bisweilen neu entdeckt, aber auch schnell wieder vergessen wird: Hermann Stresau.

Stresau wurde 1894 in Milwaukee geboren. Im Jahr 1900 war die Familie zurück in Deutschland. 1914 meldet sich der Sohn für den Kriegsdienst, um aus dieser Erfahrung später seine Argumente und Beobachtungen zu formulieren. Den Aufstieg des Nationalsozialismus dokumentiert der Autor penibel, gerade weil er selbst politisch am ehesten dem nationalkonservativen Lager zuzuordnen ist.

Der Schriftsteller Hermann Stresau überlebte den Krieg in einem kleinen Dorf in der Nähe von Berlin (undatierte Aufnahme).

Der Schriftsteller Hermann Stresau überlebte den Krieg in einem kleinen Dorf in der Nähe von Berlin (undatierte Aufnahme).

DLA Marbach

Um zu wissen, wie kam, was kommen musste, sollte man Stresaus feinnervige Analysen lesen. Da kämpft einer gleichermassen mit sich wie mit den Zeiten. Es ist ein am eigenen Leben geschulter Doppelblick auf Massenphänomene, deren Varianten sich bis heute wiederholen. Ein Blick auf die Korrumpierbarkeit der Moral, auf Nationalismus und politische Verführbarkeit.

Ein präziser Diagnostiker

Hermann Stresau war kein Emigrant. Er wollte Deutschland nicht wieder verlassen, denn er fühlte sich dem Land, seiner Kultur und vor allem seiner Sprache zugehörig. Der Autor war weder Mitläufer noch Widerständler, sondern versuchte nur, seine eigene Freiheit zu wahren. Ist das egoistische Blindheit gefährlichen Umständen gegenüber? Einerseits ja, andererseits ist es wohl genau das, was das Wesen der inneren Emigration ausmacht.

Er gehöre «zu denjenigen, die lieber die Nachteile des Unglaubens trugen als die Vorteile der Illusion», schreibt Stresau 1948 im Vorwort zu einer Auswahl aus seinen Tagebüchern. Wenn man jetzt im Buch «Von den Nazis trennt mich eine Welt» (Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 440 S.) die Tagebücher der Jahre 1933 bis 1939 noch einmal nachlesen kann, dann ist das ein Verdienst der beiden Herausgeber Peter Graf und Ulrich Faure, die aus Stresaus Notizen und seiner Vita ein anschauliches Bild deutscher Privatgeschichte machen.

Es ist eine private Geschichte, in der sich Hermann Stresaus Intellekt gänzlich uneitel an den politischen Veränderungen abarbeitete. Der Schriftsteller will sich mit dem System nicht arrangieren, und schon gar nicht sympathisiert er mit seinen Vertretern. Hitler hat für ihn das Wesen eines grössenwahnsinnigen Bahnhofsvorstehers. «An diesem grotesken Dämon hängen Millionen», schreibt Stresau und verfolgt mit Entsetzen, wie aus «Wut, Flehen, Triumph, Beschwörung und Besessenheit» die Einheit des Volkes beschworen werden soll.

Dass versucht wird, aus dem Völkischen so etwas wie Substanz zu destillieren, ist für jemanden, der an die Substanz des Geistigen glaubt, eine weitere Zumutung. Ganz genau beschreibt Hermann Stresau, wie selbst die Auflehnung in Unterwerfung umschlägt: «In der so gänzlich machtlosen Auflehnung, machtlos, da sie ja nicht einmal laut werden darf, äussert sich so viel unfreiwillige Unterwerfung unter eine Macht, die kraft ihres unsichtbaren Terrors ohne Zweifel die stärkere ist. Denn sie ruht auf den Massen, die Auflehnung nur auf Einzelnen, und es mögen der Letzteren noch so viele sein: Sie bilden eben keine Masse.»

Das ist auch pro domo gesprochen. Stresau selbst hat seinen Widerstand auf eine Weise beschränkt, die ihm zwar eine schöngeistige Arbeit ermöglicht, aber keine berufliche mehr. Der Schriftsteller weigert sich 1933, der Partei oder der SA beizutreten, und verliert seinen Brotjob an jenen Bibliotheken, die mit ihren Listen fortan verpönter Autoren massgeblich zu den Bücherverbrennungen der NS-Zeit beigetragen haben.

Hermann Stresau war einer derer, die während der Nazizeit nicht der politischen Demagogie verfielen, dafür aber umso klarer auf die Verhältnisse schauten. Auf Angst und Denunziantentum. Er selbst war bei seinem Arbeitgeber als «bolschewistisch» denunziert worden und musste sehen, wie sich in diesem System die Kräfte gegenseitig in Schach zu halten versuchten. Der Aufstieg von ganz unten nach ganz oben nahm nicht mehr den üblichen Karriereweg, sondern war eine Frage karrieristischer Amoral.

Europa wird zur Hölle

Am besten ist Stresau dort, wo er diese epidemisch gewordenen Milieus mikrosoziologisch beleuchtet. Als Geistesmensch tut er das vom Standpunkt des Elitären aus, der überall Kleinbürger wittert, wahrscheinlich allerdings in diesen Zeiten recht hat damit. Die «Nasolisten», wie er sie nennt, kommen ihm wie Kannibalen vor, deren Argwohn man nicht erregen darf, «weil man sonst aufgefressen wird».

Hermann Stresau schreibt seine gefährlichen Tagebücher nicht nur in der inneren, sondern auch in der milden Form einer äusseren Emigration. Auf dem platten Land bei Berlin, in einem Dorf namens Grünwalde. Der symptomhafte Aufstieg einer Politik des Hasses wird protokolliert, während Schubert aus dem Radio dröhnt und Shakespeare auf dem Schreibtisch liegt. Von den Bücherverbrennungen über die Pogrome und die Errichtung von Konzentrationslagern bis zum Ausbruch des Krieges verwächst der brutale Skandal der Zeit mit den privaten Angelegenheiten einer ökonomisch gefährdeten Existenz.

Stresaus Aufzeichnungen werden über die Jahre immer knapper, während das «Derwischmässige» des politischen Gekläffs, von dem 1930 schon in Thomas Manns berühmter «Deutscher Ansprache» die Rede war, immer irrsinniger erscheint. Europa wird zur Hölle, während in den Gärten Grünwaldes unverzagt die Vögel zwitschern.

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