Ja, es wird Frühling, aber lesen Sie trotzdem weiter: Mit diesen Büchern geht man gern in die schönste Jahreszeit

Die Tage werden länger, Corona bleibt, und das Beste, was man tun kann, ist lesen. Hier sind zehn persönliche Buchtipps von Redaktorinnen und Redaktoren des NZZ-Feuilletons.

Feuilletonredaktion
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Klar gibt’s blühende Bäume, laue Lüfte und wärmende Sonne, aber liegt das richtige Leben nicht zwischen zwei Buchdeckeln?

Klar gibt’s blühende Bäume, laue Lüfte und wärmende Sonne, aber liegt das richtige Leben nicht zwischen zwei Buchdeckeln?

Imago

Packlisten für Fortgeschrittene

Claudia Mäder · Mit Büchern kann man in ferne Welten aufbrechen, beim Lesen reisen wir vom Sofa aus überallhin, Texte sind die grössten Abenteuer. Bla, bla, bla! Solche Sätze haben wir im vergangenen Jahr bis zum Überdruss gehört. Langsam reicht es mit den geistigen Erkundungstouren – es ist höchste Zeit, zur Abwechslung mal wieder eine richtige Reise zu unternehmen. Das aber geht natürlich nicht, ohne vorher die einschlägige Fachliteratur zu konsultieren. Wie sonst sollte man wissen, was sinnvollerweise in den Rucksack zu packen ist für eine Sahara-Durchquerung, eine Mount-Everest-Besteigung oder eine kleine Weltumrundung? Ein schöneres Handbuch als diesen Band von Ed Stafford wird man so schnell nicht finden. Der Brite, seines Zeichens der erste Mensch, der dem Amazonas von der Quelle bis zur Mündung entlangmarschierte, beschreibt darin 25 Expeditionen, die zwischen 1889 und 2018 stattfanden. Den Anfang macht der Trip von Nellie Bly: Die Amerikanerin wollte Jules Vernes Romanhelden Phileas Fogg unterbieten und in weniger als 80 Tagen um die Welt reisen. Am Ende steht die Britin Laura Bingham, die den Essequibo-Fluss in Guyana mit dem Kanu abfuhr. In seinen kurzen Kapiteln stellt Stafford aber nicht nur die Routen der Abenteurer vor, er zeigt vor allem auch, welche Kleidungsstücke, Nahrungsmittel und Gegenstände all diese Unerschrockenen bei ihren Projekten mit sich führten. Liebevolle Zeichnungen der Gepäckinhalte bringen einen genauso ins Schwärmen – beheizbare Socken! – wie ins Grübeln: Wie hat Nellie Bly es geschafft, eine Flasche Mumm-Champagner in ihre kleine Reisetasche zu quetschen? Wird ein Kraftriegel mit Pfefferminzgeschmack geniessbar, wenn man ihn wie Sir Edmund Hillary auf dem Gipfel des höchsten Bergs der Welt verzehrt? Und ist Reisen wirklich so öd, dass man wie Roald Amundsen eine Bibliothek von 3000 Büchern einpacken muss, um unterwegs der Langeweile zu entfliehen?

Ed Stafford: Im Rucksack der Entdecker. Womit Amundsen, Heyerdahl, Messner und Co. ins Unbekannte zogen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft / Theiss, Darmstadt 2021. 240 S., Fr. 56.90.

Expeditionen an den Paradeplatz

Roman Bucheli · Es sage keiner, der Paradeplatz sei kein lohnendes Reiseziel. Nein, nicht der Banken wegen, nicht wegen Sprüngli. Wir Zürcher haben ja ein gespaltenes Verhältnis zum berühmtesten Platz der Stadt. Nun haben aber zwei junge Tessiner Schriftsteller diesen Unort erkundet – und verwandeln ihn in schönste, fröhlichste Poesie. Im Jahr 2018 sind Yari Bernasconi und Andrea Fazioli, jener aus Bern, dieser aus Bellinzona, einmal jeden Monat nach Zürich gefahren, trafen sich am Paradeplatz, sassen da ein paar Stunden und schauten den Leuten zu. Sie lasen sich ein Gedicht vor, machten Notizen – und fuhren wieder nach Hause. Die Ergebnisse ihrer Zürcher Expeditionen haben sie jetzt in einem wunderbaren Buch festgehalten. «A Zurigo, sulla luna» ist eine Art poetische Ethnografie, indem Fazioli und Bernasconi mit der Neugier von Entdeckern und der Sprachlust der Dichter die melancholische Komik des Alltags nüchtern festhalten: die lächerliche Travestie eines Soldaten im Tarnanzug mitten auf dem Paradeplatz; die beflissene Ernsthaftigkeit, mit der sich sonntags die Leute hier amüsieren; die Krawattenmänner, die über den Platz eilen; nicht zu vergessen die verlorenen Gestalten. Im Dezember erfüllen sie sich ihren Wunsch, den sie schon im Januar hegten: einmal mit der Linie 13 bis zur Endstation Frankental fahren. Wahrscheinlich taten sie es allein des Namens wegen. Aber spätestens jetzt, unterwegs nach Frankental, muss ihnen schlagartig klargeworden sein, was das eigentlich heisst: die Geburt der Poesie aus dem Geist der Nutzlosigkeit.

Yari Bernasconi / Andrea Fazioli: A Zurigo, sulla luna. Dodici mesi in Paradeplatz. Reportage. Gabriele Capelli Editore, Mendrisio 2021. 144 S., Fr. 20.–.

So launisch wie der Frühling

Tobias Sedlmaier · Eine heitere Wieder- oder Neuentdeckung ist der erste Roman von Iwan Gontscharow (1812–1891), unter dem Titel «Eine gewöhnliche Geschichte» in neuer Übersetzung und mit ausführlichem Kommentar von Vera Bischitzky auf Deutsch erschienen. Mit grossem Abschiedstrara kommt ein junger Mann aus der Provinz, wo er seine Mutter zurücklässt, nach Sankt Petersburg. Es ist das Ende einer märchenhaft behüteten Kindheit, wie sie auch im «Oblomow» gezeichnet wird, dem bekanntesten Werk des russischen Realisten. In der Grossstadt eröffnet sich eine antagonistische Konstellation: Der idealistische Schwärmer trifft auf seinen nüchternen Gegenpart in Gestalt des Onkels. Dieser ist ein völlig dem Irdischen verhafteter Unternehmer, mit einer Hemmung vor allzu grosser körperlicher Nähe und einer Abscheu vor gefühlsduseligem Pathos: «Ich rate dir strikt davon ab, eine Frau zu heiraten, in die du verliebt bist.» Wir werden sehen, ob diese Weisheit irgendwann auf fruchtbaren Boden fällt. Poesie stösst auf Prosa, Romantik auf Realismus: Ein bekannter Konflikt, von Gontscharow präzis, herrlich komisch und launisch wie der Frühling entworfen.

Iwan Gontscharow: Eine gewöhnliche Geschichte. Roman. Neu übersetzt von Vera Bischitzky. Hanser-Verlag, München 2021. 512 S., Fr. 51.90.

Der Mensch franst aus

René Scheu · Wir leben nicht im Anthropozän. Das ist eine der frischen Konklusionen im neuen Buch des fröhlich-philosophischen Autors Wolfgang Welsch. Denn Anthropozän würde heissen, dass der Mensch den Planeten irreversibel prägte. Aber wer ist schon der Mensch? Welsch, einst Vordenker der Postmoderne, hat sich seit seinen Aufenthalten in Stanford um die Jahrtausendwende einer neuen evolutionär-spekulativen Anthropologie verschrieben. Die Natur ist so geistaffin, wie der Mensch naturaffin ist. Konkret: Der Homo sapiens ist selbst ein Naturprodukt, also ein Tier unter Tieren. Er kann nur dank Billionen von Mikroorganismen funktionieren, die symbiotisch mit ihm leben – nur zehn Prozent des Genoms, das der menschliche Körper enthält, ist Humangenom. Und er lebt dynamisch in einer Umwelt, die von einer Unendlichkeit anderer Organismen mitgeprägt wird. Kurzum, der Mensch franst in alle Richtungen aus, gegen innen und aussen. An dieser Erkenntnis labt sich Welsch in seinem neuen Büchlein «Im Fluss. Leben in Bewegung». Ist der aufgeklärte Mensch wirklich bei sich, ist er ausser sich – bei den Mikroorganismen, die sich von ihm ernähren, bei den anderen Tieren und Pflanzen, von denen er sich ernährt. Hing er einst der menschengemachten Dekonstruktion aus dem schicken Paris an, so hält er sich heute an die Dekonstruktion durch die Natur, die immer schon begonnen hat (und niemals aufhört): Der Mensch ist nicht einer, sondern viele. Er ist nicht Substanz, sondern Prozess, nicht Stabilität, sondern Fluidität. Und solange der Mensch dies nicht begreift, gilt der Satz: «Der kognitive Gigant ist moralisch ein Zwerg.» Natürlich kehren in Welschs evolutionär-spekulativer Anthropologie all die postmodernen Hoffnungen auf Emanzipation wieder: Überwindung des Einen, Überwindung starrer Grenzen, Überwindung der zweiwertigen Vernunft, Überwindung aller Hierarchien. Am Ende steht das harmonische grosse Ganze, in das sich der Mensch freiwillig einfügt, indem er sich als Vielfalt unter Vielfalten begreift. Trotz diesem neoromantischen Utopismus wirkt das Buch anregend und vitalisierend. Denn es zeigt – der Mensch bleibt das Tier, das sich selbst überschätzt.

Wolfgang Welsch: Im Fluss. Leben in Bewegung. Matthes & Seitz, Berlin 2021. 175 S., Fr. 21.90.

Freiheit beginnt da, wo wir uns für sie entscheiden

Thomas Ribi · Manchmal sitzt Jenny Odell im Morcom Amphitheatre of Roses, einem riesigen Rosengarten mitten in Oakland. Sitzt einfach da und tut nichts. Natürlich nicht ganz. Sie hört den Vögeln zu. Denkt nach. Aber tut doch das, was man als Nichtstun bezeichnen würde. Dann hat sie den Eindruck, die Zeit stehe still. Und weiss genau: Sie tut etwas, das sie eigentlich nicht dürfte. Etwas, das nicht vorgesehen wäre in einer Welt, die von Mails, SMS-Nachrichten, Telefonanrufen, Social-Media-Aktivitäten und Zoom-Konferenzen getaktet ist. Natürlich steht die Zeit nicht still, wenn wir in einem Garten sitzen und den Vögeln lauschen. Im Gegenteil, sie vergeht, aber ohne dass wir etwas Nutzbringendes schaffen. Vergeht ohne uns. Und das darf eigentlich nicht sein. Zeit ist Geld, und ungenützte Zeit kostet, ohne einen Ertrag zu bringen. Genau dafür plädiert Odell in ihrem Buch «Nichts tun»: sich zu entziehen. Der Welt abhandenzukommen – und sich auf eine neue Weise auf sie und auf sich selbst einzulassen. Das klingt banal. Doch ganz so simpel ist es nicht. Der Aufruf zum Nichtstun hat bei der amerikanischen Künstlerin eine politische Note. Wer sich aus der von kurzfristigen Verlockungen und Belohnungen geprägten Ökonomie der Aufmerksamkeit ausklinkt, vollzieht einen Akt des Widerstands. Einen demokratischen Akt. Er befreit uns, zum Beispiel zur Aufmerksamkeit. Für uns und für andere Menschen. Oder die Natur. Orte wie das Morcom Amphitheatre, sagt Odell, seien genauso bedroht wie das Nichtstun. Ungenutzte Flächen. Nur wenn wir uns für sie wehren, bleiben sie erhalten. Und zeigen uns, dass Freiheit da beginnt, wo wir uns für sie entscheiden.

Jenny Odell: Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. C. H. Beck, München 2021. 296 S., Fr. 37.90.

Geheimnisse berühmter Häuser lüften

Sabine von Fischer · Hinter einem Haus von Le Corbusier Verstecken spielen? Für Rolf Fassbaender war das nichts Besonderes, schliesslich wohnte er nebenan, in der Siedlung auf dem Weissenhof eben, in einem von J. J. Oud entworfenen Reihenhaus. 1927 war er dort als Zweijähriger eingezogen, als Kind zerschoss er mit einem Luftgewehr eine Strassenlaterne, als Jugendlicher schlief er mit dem Kopf unter dem Sternenhimmel auf dem winzigen Balkon vor seinem kleinen Zimmer – solche Erinnerungen, hinterlegt mit Fotografien aus dem Familienalbum, beleuchten die Ideen der modernen Wohnkultur weit abseits der unterdessen ein Jahrhundert alten Polemik um Flach- contra Schrägdächer. Ob der Architektur der weissen Häuser im Stuttgarter Umland nämlich schieden sich die Geister. Über alltägliche Erlebnisse aus der Kindheit zu sinnieren, provoziert bei Laien genauso wie bei Fachleuten eine neue Sicht auf Altbekanntes. Kinderaugen schauen eben anders. Dass Menschen im hohen Alter – im Fall der im Buch «Kinder der Moderne» erzählten Erinnerungen sind es zuweilen die letzten noch lebenden Familienmitglieder – so offen Auskunft geben, ist wohl auch dem jungen Architektenpaar geschuldet, das mit einem Kleinkind auf dem Schoss die Fragen stellte. Ob dabei die Menschen oder die Häuser die Hauptrolle spielen, ist angesichts der Neugierde der Autoren nebensächlich. Vielmehr eröffnet dieses Buch eine zeitgemässe Sichtweise auf Architektur, die aus dem Erlebniszusammenhang schöpft.

Julia Jamrozik und Coryn Kempster: Kinder der Moderne. Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden. Birkhäuser-Verlag, Basel 2021. 328 S., Fr. 56.90.

Freiheit für Neukaledonien

Roman Bucheli · Als am 24. April 1988 der erste Durchgang der französischen Präsidentschaftswahlen stattfindet, erringt der amtierende Präsident François Mitterrand zwar das beste Ergebnis, doch keine Mehrheit. Mitterrand jedoch hat zu diesem Zeitpunkt ganz andere Sorgen. Denn zwei Tage zuvor haben Rebellen auf dem 16 000 Kilometer vom Mutterland entfernten Atoll Neukaledonien eine Gendarmerie überfallen und rund zwei Dutzend französische Polizisten in Geiselhaft genommen. Bei der Aktion werden vier Gendarmen erschossen. Indessen hätte die Polizeistation ohne Blutvergiessen besetzt werden sollen. Geplant war lediglich eine Geiselnahme bis zum zweiten Wahlgang, um endlich die Unabhängigkeit dieses Überseegebietes zu erzwingen. Mit den toten Gendarmen aber ist alles anders; das ist ein Angriff auf den Staat. Im Morgengrauen des 5. Mai wird die Geiselnahme blutig beendet. Was aber geschah in den 13 Tagen dazwischen, und was lief schief am 22. April? Der junge französische Schriftsteller Joseph Andras wollte es genau wissen. Er besuchte das Atoll, er ging von Insel zu Insel, fragte nach Überlebenden und Zeugen, er sprach mit der Mutter des Anführers, mit dessen Studienfreunden. Nun erzählt er schlicht und nüchtern, was er sah und hörte. Schlüssige Antworten findet er keine, er trägt nur Bruchstücke zusammen, aus denen ein facettenreiches, flirrendes Bild entsteht. Sein bewegendes Buch aber vermittelt die Einsicht, dass die Wahrheit der Geschichte immer in den Geschichten liegt.

Joseph Andras: Kanaky. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Hanser-Verlag, München 2021. 320 S., Fr. 38.90.

Auch in einer Jurte kann man Bach spielen

Christian Wildhagen · Den Titel muss man langsam lesen, mit Pausen und langem Atemholen zwischen den Wörtern. Nur so bekommt man ein Gespür für den paradoxen Reiz dieses hoch atmosphärischen Buches. Sibirien – das meint Weite, Kälte, Leere, und so mancher Mensch, so manches Schicksal mag im uferlosen Nichts dieser Terra incognita unwiederbringlich verloren gegangen sein. Freilich gehören zu den Vergessenen auch die Abermillionen Opfer der Straflager und Gulags, wohin man Missliebige schon seit der Zarenzeit verbannte. Das ist die unheimliche Seite dieses gottverlassenen Fleckens Erde, der sich für westliche Augen vom Ural bis ans Ende der Welt erstrecken mag. Grösse, Melancholie und Schrecken – eine sehr russische Mischung. Was aber hat dort etwas so Nobles und Schönes wie ein Klavier verloren? Und wer könnte so barbarisch sein, dieses Wunderwerk menschlichen Geistes dem Steppenstaub zu überlassen? Sophy Roberts erzählt in ihrer literarischen Reportage aus anfangs ungewohntem, bald immer stärker faszinierendem Blickwinkel eine andere Kulturgeschichte Russlands. Sie reicht von der Liszt-Hysterie und der Pianomanie des 19. Jahrhunderts bis in die postsowjetisch zersplitterte Gegenwart. Tausende Kilometer ist Roberts für ihre Spurensuche kreuz und quer durch das Land gereist, bis an die Pazifikküste und in die Mongolei, bevorzugt im Winter, der Mücken wegen. Im vermeintlichen Nichts aber stiess sie überraschend oft auf Tasteninstrumente, die ihr von Schicksalen kündeten, von gescheiterten Kulturprojekten ebenso wie von geglücktem kulturellem Austausch. Auf einen Ibach-Flügel beispielsweise, gebaut im westfälischen Schwelm, den es auf die Halbinsel Kamtschatka verschlagen hat. Auf die Reste der Manufaktur «Roter Oktober», einst einer der grössten Klavierbauer der Welt. Auf die anrührende Geschichte der Frau eines Revolutionärs, die ihrem Mann mitsamt ihrem Klavichord in die Verbannung folgte, sechstausend Kilometer weit, auf einem Schlitten. Und auf die junge mongolische Pianistin Odgorel, die in ihrer Jurte Bach spielt und von einer grossen Zukunft träumt. Man kann sich herrlich verlieren in diesem Buch wie in dieser Landschaft, die plötzlich gar nicht mehr karg und leer erscheint. Und am Ende versteht man, warum Swjatoslaw Richter, vielleicht der grösste Pianist des 20. Jahrhunderts, 1986 eine Landkarte der UdSSR zur Hand nahm, mit kühnem Strich eine Reiseroute von Moskau über Irkutsk bis nach Chabarowsk skizzierte – und sich auf die Reise machte. Zum Glück kehrte er irgendwann zurück.

Sophy Roberts: Sibiriens vergessene Klaviere. Auf der Suche nach der Geschichte, die sie erzählen. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2020. 400 S., Fr. 41.90.

Freud auf der Akropolis

Thomas Ribi · Am Nachmittag des 4. September 1904 stand Sigmund Freud auf der Akropolis. Einen Tag vorher war er mit seinem Bruder Alexander in Athen angekommen. Geplant gewesen war das nicht. Eigentlich hätten die beiden nach Korfu fahren wollen. Auf den Rat eines Bekannten änderten sie in Triest ihre Pläne und kamen an einem Samstag um die Mittagszeit in Piräus an. «Schön. Luft staubig», schrieb Freud am Abend auf einer Postkarte an seine Tochter Anna. «Grossartig, unbeschreiblich schön die Einfahrt. Die Akropolis.» Und weiter: «Schon viel gesehen. Theseustempel unvergesslich, überhaupt höchst merkwürdig. Jetzt hungrig. Gruss Pa». Am nächsten Tag ging’s auf die Akropolis. Und da geschah etwas Sonderbares. Als Freud in den Ruinen stand, kam ihm auf einmal der Gedanke: «Also existiert das alles wirklich so, wie wir es auf der Schule gelernt haben?!» Mehr als dreissig Jahre später erinnerte er sich an das eigenartige Gefühl und machte es zum Gegenstand eines Beitrags für die Festschrift zum 70. Geburtstag des französischen Schriftstellers Romain Rolland. Die Empfindung, die ihn auf der Akropolis überfiel, war mehr als das Staunen darüber, an einem geschichtsträchtigen Ort zu sein, den er bisher nur von Bildern gekannt hatte. Es war ein Gefühl der Entfremdung. Von der Situation, vom Ort, von sich selbst. «Die Person, die eine Äusserung tat», schrieb Freud aus der Erinnerung, «sonderte sich, weit schärfer als sonst merklich, von einer anderen, die diese Äusserung wahrnahm, und beide waren verwundert, wenn auch nicht über das gleiche.» Die Deutung, die Freud dem Erlebnis gibt, ist das eine, was die Schrift «Unglaube auf der Akropolis» zur spannenden Lektüre macht. Das andere ist der Umstand, dass der Text in zwei Varianten existiert, die sich geringfügig, aber bedeutungsvoll unterscheiden. Im Nachwort des schönen Buches rekonstruiert Alexandre Métraux die Entstehung der beiden Texte. Das ist eine Geschichte für sich. Und man liest sie, als wäre es ein Krimi.

Sigmund Freud: Unglaube auf der Akropolis. Ein Urtext und seine Geschichte. Wallstein-Verlag, Göttingen 2021. 120 S., Fr. 36.90.

Pilgern mit einem grossen Zweifler

Manuel Müller · Dieses Buch ist nicht gerade billig. Dafür bekommt man eine Weltreise! Und wohlgemerkt: Eine solche können zurzeit selbst Reisebüros nicht bieten. Im Gegenzug ist der Band 800 Gramm schwer. Doch keine Angst, umso leichter ist sein Inhalt – solange man wüste Scherze goutiert und Ironie verträgt. Ja, anderenfalls wäre Mark Twain der falsche Fremdenführer. Und sein Bericht über die Reise ins Heilige Land der reinste Höllenritt. Anlass für den Trip ist eine Luxuskreuzfahrt, die erste der amerikanischen Geschichte. 1867 sticht der Dampfer «Quaker City» mit vielen braven Gläubigen in See, an Bord ist ein junger Journalist, der es noch zu nichts gebracht hat und in den Augen vieler Mitreisender zur Liederlichkeit neigt. Er trinkt, er flucht, er zweifelt an allen höheren Mächten. In seinen dreissig Jahren hat er sich bereits als Schriftsetzer, Lotse auf dem Mississippi, Freiwilliger in einer Konföderiertenmiliz (für zwei Wochen!) und Silbergräber betätigt. Das Schlimmste aber: Er ist witzig. Ob auf den Azoren, in Gibraltar, bei Versailles, vor Konstantinopel oder in Jerusalem – Mark Twain lässt beim Pilgern an der Welt kein Haar ungekrümmt. Das wurde ihm sogar selbst zu viel. Für die Buchform der Zeitungsartikel stutzte er das Schlimmste weg, manche Zote fiel unters Pult. So etwa die Episode, als der Tourist in Genua eine Dame erblickt, die er für die schönste der Welt hält, die aber leider erkältet ist und bei der sich der Autor gerade darum sicher ist: Er wäre für immer glücklich, dürfte er diesem Näschen nur einmal das Taschentuch reichen. Ja, Twain kann gnadenlos sein, mit sich selbst und mit anderen sowieso. Er hadert mit der Fremde, die ihn überall barbarisch dünkt. Aber wer mit ihm reist, wird entschädigt, man kommt viel herum, in Raum und Zeit, und merkt: So viel hat sich nicht geändert. Vor Athen muss man wieder in Quarantäne. Die Twain natürlich für einen nächtlichen Ausflug bricht.

Mark Twain: Unterwegs mit den Arglosen. Die Originalreportagen aus Europa und dem Heiligen Land. Aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Mare-Verlag, Hamburg 2021. 528 S., Fr. 57.90.