Bereuen, Sterben, Leben: Die Mitternachtsbibliothek

von | 11.06.2021 | #BKtastisch, Belletristik, Buchpranger, Specials

Matt Haig hat sich mit „Ich und die Menschen“ unter Zeilenschwimmerin Ronjas Lieblingsautor*innen geschrieben. Auf seinen neuen Roman „Die Mitternachtsbibliothek“ hat sie sich schon eine Weile gefreut – und wurde nicht enttäuscht.

Nora Seed hält es nicht mehr aus. Alles in ihrem Leben scheint zerbrochen. Sie will sterben, schluckt eine Überdosis Schlaftabletten … und erwacht in der Mitternachtsbibliothek, einem Ort zwischen Leben und Tod. Unendlich viele Bücher stehen in den Regalen, jedes beinhaltet ein alternatives Leben. Ein Leben, das Nora hätte leben können, wenn sie irgendeine Entscheidung anders getroffen hätte. Nun hat sie die Chance, diese Leben anzuprobieren, doch ihr bleibt nicht viel Zeit.

Unglückliche Beziehungen, Reue, Krankheiten, Depression, Todesfälle, Selbstmord … Mit all diesen emotionalen Schwergewichten ist „Die Mitternachtsbibliothek“ kein leichtes Buch. Alles zusammen hätte mich beim Lesen eigentlich niederschmettern müssen. Doch Matt Haig hat eine so charmante Art, über schwierige Dinge zu schreiben, mit dezentem Witz, der nie den Ernst der Lage verleugnet, und viel Fantasie. So wie ich vereinzelt ein wenig blinzeln musste, um die Tränen zurückzudrängen (mir ist bloß was ins Auge gekommen!), so habe ich auch laut gelacht. Das Buch war an zwei Abenden gelesen. Am ersten hätte ich fast vergessen, ins Bett zu gehen – schwierig, wenn man am nächsten Morgen zur Arbeit muss.

„Aber sie hatte sich einsam gefühlt. Und obwohl sie lang genug Existenzphilosophie studiert hatte, um zu glauben, dass Einsamkeit ein fundamentaler Teil der menschlichen Existenz in einem grundsätzlich sinnlosen Universum ist, freute sie sich, ihn zu sehen.“ (S. 15)

Obwohl die Mitternachtsbibliothek, dieses Reich der Möglichkeiten zwischen Leben und Tod, pure Fantasie ist (oder zumindest hochspekulativ), so ist der Rest doch nah am Leben. Gibt es irgendjemanden auf dieser Welt, der oder die keine einzige Entscheidung bereut und sich niemals fragt, was gewesen wäre, wenn …? Nora fragt sich das ständig. Auch ich frage mich das viel zu oft. Und gerade momentan, wo viele von uns zu viel Zeit zum Grübeln haben, kommt dieses Buch für mich genau im richtigen Moment. Es beinhaltet Botschaften, die auch manche sogenannte „Life-Coaches“ zu vermitteln behaupten. Bloß … besser. Weniger aggressiv. Unterhaltsamer. Schöner. Sympathischer. Glaubwürdiger.

Natürlich ist dieser Roman auch stellenweise etwas kitschig. Wie könnte er nicht, wo es doch darum geht, in ein Leben zurückzufinden? Aber es ist kein zum Erbrechen erdrückender Kitsch. Es ist schöner Kitsch. Heilsamer Kitsch. Und es braucht sich niemand vor einem hollywoodesken Happy-End zu fürchten. Der Ritter auf dem weißen Pferd bleibt aus. Die Rettung findet sich woanders.

Die Mitternachtsbibliothek. Matt Haig. Übersetzung: Sabine Hübner. Droemer. 2021.

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