Literatur, Lyrik

Nach dem Raubtiermodus

Der sächsische Lyriker John Sauter erobert mit Worten ein Land, dass von vielen nur als »Zone« bezeichnet wird. Seine Lyrik ist melancholisch, scharf und hoffnungsvoll; und trägt den Traum von einer besseren Zeit.

Was ist das für ein Land, von dem John Sauter in seinen Gedichten spricht? Shuttles gleiten ein, aber Bahnlinien liegen brach. Das Licht der Jupitermonde wirft lange Schatten, Solarpanels dürsten an den kurzen Tagen nach den nährenden Strahlen. Und die Patina der Zeit hat sich über längst aussortierte Infrastruktur gelegt. Autos, Busse, Flugzeuge – all das gibt es noch, aber was aus den »Zonenpiloten« geworden ist, die früher am Steuer saßen, weiß niemand so genau. Die Zone ist der Ort, wo wir uns aufhalten«, heißt es an einer Stelle, da weiß man aber schon, dass es kein fröhlicher Ort sein kann. Denn auf dem Weg durch diese Zone ist man schon an Kummer- und Druffihäusern, an Bergwerkstollen und Deponien, an leeren Fußballplätzen, verfallenen Friedhöfen und anderen zivilisatorischen Ruinen vorbeigekommen.

»Unter stillen Wolken, Laternen, Ästen
Fuhren wir an Fabriken vorbei
Auch an den Schlachthöfen
Festgerosteten Windturbinen, Schächten und Nischen
Von denen es so viele gab
In unserem verschwiegenen, lauten Land
Hielt das orange Licht der Laternen
Alles im Lot, vor allem nachts«

John Sauter: Zone

John Sauter, 1984 im sächsischen Freiberg geboren, beschreibt in »Zone« kein Sperrgebiet in irgendeiner fernen Zukunft, sondern legt eine poetologische Vermessung eines Landes vor, dass an die neuen Bundesländer erinnert, die im Volksmund gern auch mal »die Zone« genannt werden. Und er findet faszinierend treffende und vielsagende Worte, wenn er seinen autofiktionalen Ich-Erzähler Johnny über diese »sonst so leere Welt« – die bei mir Bilder der dörflichen Einöde zwischen Lausitz und Erzgebirge und damit auch die Literatur von Lukas Rietzschel über Emma Braslavsky bis Clemens Meyer hervorgerufen haben – schauen lässt:

»So spähen wir von Brücke zu Brücke
Und sehen doch nur, was wir schon kennen
Alte Heimat, alter Stuck unterm Himmel, altes Seitenstechen
Vom Rennen um den immergleichen
Sportplatz
Aschebahn
Pfeiflunge und Kater
Vom letzten Derby
Vom letzten Fick
Vom letzten Schnaps
Von Raketen
Die wir aus den Händen starten
Brandlöcher in Bomberjacken
Und Doc Martens
Von den Stadionsitzen
Affenrufe
Saug es auf, man kennt es
Für immer«

John Sauter: Zone
John Sauter: Zone. Edition Azur / Voland & Quist 2021. 119 Seiten. 20,00 Euro. Hier bestellen.

Ausverkauf, Bevölkerungsschwund und Verfall, Neuanfang, Überforderung und Aggression, Vereinsamung, Depression und Perspektivlosigkeit – all das thematisiert er in seinem etwas mehr als 100 Seiten zählenden Langgedicht, das sich wie eine dystopische Erzählung von Simon Stålenhag liest. »Zone« ist Hohelied und Abgesang in einem: eine Hymne auf das, was war und hätte sein können, und ein Requiem auf das, was aus all dem geworden ist. Der Existenzialismus ist ihr dabei direkt eingeschrieben. Weil bis zum Schluss fraglich bleibt, was von dieser Zone Einbildung und was Realität ist. Und weil dieser Text rasiermesserscharf analysiert, was diese Zone in all ihrer gebrochenen Verfasstheit ausmacht.

Aufgebaut ist diese sprachliche Erkundung der Zone und ihrer Bewohner:innen wie ein Monolog, der sich an einen Zuhörer richtet. Ein Zuhörer, den Johnny kennt. Wohl ein Freund aus alten Tagen, zumindest ist der Ton vertraut und es gibt gemeinsame Bekannte. Dave, Monty, Marco, Ronny und Tom tauchen in diesem »Strom in meinem Kopf« vor und repräsentieren die Generation, für die er spricht. Sie alle haben die »Dschungelgesetze« der neuen Ordnung inhaliert und legen diesen »Raubtiermodus« nun für sich aus. Wie brutal es dabei zugeht, lässt die Zeile »Clockwork Orange, nur in groß« erahnen. Die Verhältnisse, aus denen sie kommen, und die Verhältnisse, in denen sie jetzt leben – all das legt Johnny nun in Zeilen aus.

»Nachts hört man die Raubtiere
Häuserbauten zittern
Deine Haut wurde Echse
Unempfindlich gegen Schläge
Tritte, Klingen, unempfindlich gegen
Was sie beim Vereinsfest
Am Lagerfeuer singen
Ja die Stadt, ja die Stadt
Die ist doch viel zu klein
Für all unsere Träume
Vom Untergang sein«

John Sauter: Zone

Dass Sauters Erzähler Zeilen wie diese als »Zerrissne Landkarten im Kopf« beschreibt, zeigt, wie sehr diese Zeilen aus der konkreten Wirklichkeit in die Seelenlandschaften der Zone und ihrer Bewohner zielen. In dieser gesellschaftspolitischen Genauigkeit ist diese Lyrik genau das, wonach diese Zeiten verlangen. Sie steht für eine engagierte Kunst, die sich nicht um sich selbst dreht, sondern sich für die Dinge interessiert, die die Gesellschaft bewegen.

Sauters Lyrik ist nicht nur gesellschaftspolitisch, sondern auch strukturell höchst interessant. Gedanken, Sätze, Passagen werden in Einzelteile zerlegt und neu aneinandergereiht. So erhält jedes Element seine eigene Bedeutung oder wird – wie die Zeile »In unserem verschwiegenen, lauten Land« in der anfangs zitierten Passage im doppelten Sinn in Anspruch genommen. Das verschwiegene, laute Land wird zum Ort, in dem es so viel Festgerostetes gab, aber auch zum Land der orangenen Lichter. Nichts haben sie wirklich beleuchtet, diese Lichter, und dennoch wärmen sie so manches Zonenkind bis heute – ganz egal, wie die Zone beschaffen ist.

Schön wird sie niemals sein, die Zone, heißt es an einer Stelle, »Aber was haben wir Denn sonst«, fragt Sauters Erzähler das namenlose Du, an das er sich richtet. Und dieses Land haben die Zonenkinder immer im Gepäck: als Setzling, als warme Decke, als Buch oder Melodie. Es ist eine Chance und Symbol einer Sehnsucht, wie die letzten Zeilen deutlich machen:

»Wir verlassen das Land
Müssen eigne Geschichten erfinden
Wir verlassen das Land
Selbst rudern und dann
Kommen wir ja vielleicht
Irgendwann an.«

John Sauter: Zone

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