Kann uns die Philosophie aus der Klimakrise helfen?

Sie gilt gemeinhin als eher weltabgewandt, aber vielleicht ist die Philosophie gerade heute besonders wichtig: Bernward Gesang geht in seinem Buch davon aus, dass sie uns Handlungsmaximen zur Lösung des Klimaproblems bietet.

Edward Kanterian
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Was kann der Einzelne ausrichten in einem Gesamtgefüge? Auch um diese Frage dreht sich Bernward Gesangs Buch zur Klimakrise (ausgetrockneter Boden in Ahar, Iran).

Was kann der Einzelne ausrichten in einem Gesamtgefüge? Auch um diese Frage dreht sich Bernward Gesangs Buch zur Klimakrise (ausgetrockneter Boden in Ahar, Iran).

Cavan Images / Imago

Wie kann man als Einzelner auf den Klimawandel reagieren? Man kann ihn einfach leugnen. Das grenzt aber an Eskapismus, wenn man den Zustand des Planeten wissenschaftlich betrachtet. Eine solche «Beruhigungspille» wirkt ohnehin nur bei wenigen. Laut einer Umfrage von 2019 halten 93 Prozent der EU-Bürger den Klimawandel für ein ernstes Problem, 79 für ein sehr ernstes. Also heisst es handeln, als Bürger und als Konsument.

Doch Engagement hat seine Kosten, finanzielle und lebenspraktische. Das führt zum Trittbrettfahrerproblem, wie schon David Hume in seinem «Traktat über die menschliche Natur» erkannte. Je mehr Menschen an einer Problemlösung beteiligt sind, umso mehr werden «einen Vorwand suchen, um sich von der Mühe und den Kosten zu befreien und die ganze Last den anderen aufzuhalsen». Wer will da noch aktiv werden?

So kann man beim Klimaproblem als Einzelner schnell resignieren. Mächtigere Akteure sollen es richten, der Staat, die grossen Konzerne. Dabei gäbe es noch eine weitere Option – die Philosophie. Das mag Staunen hervorrufen, gilt sie doch gemeinhin als weltfremde Disziplin. Doch mit ebendiesem Vorurteil will Bernward Gesang in seinem couragierten Buch «Mit kühlem Kopf» aufräumen. Sein Räsonnement: Um das Klimaproblem zu lösen, brauchen wir allgemeine Handlungsmaximen. Genau diese liefert die Moralphilosophie.

Zuerst die Grundlagen sichern

Der Autor, Professor für Philosophie an der Universität Mannheim, bekennt sich zum Utilitarismus, den er in der Einleitung kompetent vorstellt. Gemäss diesem sind Handlungen einzig an ihrem Beitrag zur «Gesamtsumme des Glücks in der Welt» als gut oder schlecht zu bewerten. Ideale wie Gerechtigkeit, Würde oder Tugend sind sekundär. An einer Gesellschaft, die nur aus Sadisten und Masochisten besteht, ist, so der Autor, nichts zu monieren, solange beide Seiten sich als maximal befriedigt empfinden.

Das greift zu kurz. Was geht es einen Hedonisten an, dass Millionen Menschen um 2100 in unerträglicher Hitze leben werden? Ohne eine moralische Verpflichtung zu einem «Ideal eines Ganzen aller Menschen», wie ein kantischer Imperativ lautet, ist es schleierhaft, wie eine auf die Erfüllung momentaner Bedürfnisse abzielende Ethik uns dazu bewegen soll, Verantwortung für ungeborene Generationen zu übernehmen. Kant kommt in diesem Buch leider nur als Schiessbudenfigur vor.

Im ersten Kapitel behandelt Gesang die «grosse Transformation», die unsere Spezies in diesem Jahrhundert leisten muss. Ihre drei wichtigsten Aufgaben lauten Klimawende (sprich: Dekarbonisierung), Ressourcenwende (nachhaltige Kreislaufwirtschaft) und Artenschutz. Das utilitaristische «Nutzenkalkül» zeigt, dass die Dekarbonisierung Vorrang hat angesichts des engen Zeitrahmens von 25 bis 30 Jahren, den wir laut Weltklimarat noch haben, um eine Erwärmung um zwei Grad nicht zu überschreiten. In einer Notlage sind zuerst die Grundlagen des Lebens zu sichern. Massnahmen, die den grössten Unterschied ausmachen, haben daher Priorität.

Sparen in Uganda

Das ist auch die Kernthese des zweiten Kapitels. Der Einzelne ist keineswegs machtlos, wie das Nutzenkalkül zeigt. Muss ich meinen ganzen Konsum sofort umstellen? Leichter gesagt als getan. Und selbst wenn ich es schaffe – dem Nachbarn bleiben Schnitzel und SUV heilig. Zudem gibt es das «grüne Paradoxon»: Wenn die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen in reichen Ländern abnimmt, steigt sie in Entwicklungsländern. Effizienter ist es daher laut dem Autor, dieses Arm-Reich-Gefälle auszunutzen, durch Spenden an eine zertifizierte Hilfsorganisation wie «Cool Earth», die die Bekämpfung der Armut mit dem Klimaschutz verbindet. Denn es ist viel billiger, eine Tonne CO2 in Uganda als bei uns einzusparen. So helfe ich notleidenden Menschen und leiste einen grösstmöglichen Beitrag gegen den Klimawandel. Zumindest solange das Arm-Reich-Gefälle besteht.

Vielleicht ist diese utilitaristische Strategie tatsächlich ein Hoffnungsschimmer, der hilft, nicht der individuellen Resignation zu verfallen. Das soll die mächtigeren Akteure aber nicht von ihrer Verantwortung entlasten, wie Gesang im dritten Kapitel betont. Hier wird vor allem die «lahme Ente» Politik kritisch beleuchtet.

Die liberale Demokratie sei keineswegs abzuschaffen, müsse aber klimatauglich werden, etwa durch die Einführung eines «Führerscheins für Politiker», der gefährlichen Ignoranten den Weg zur Macht verbaut, eines Zukunftsanwalts, der die Interessen kommender Generationen wahrt, oder durch den Abbau des Nationalstaats, der einer globalen Gerechtigkeit im Weg steht. Bedenkenswerte, wenn auch höchst ambitionierte Vorschläge. Beschneiden sie nicht unsere Freiheit? Diese endet allerdings dort, wo die Freiheit anderer, auch künftiger Menschen beginnt.

Das letzte Kapitel stellt sachkundig Technologien wie die CO2-Sequestrierung vor. Keine liefert eine Ideallösung des Klimaproblems. Auch wenn das Buch in lockerem, stellenweise amüsantem Stil geschrieben ist: Man merkt dem Autor seine Verzweiflung an – etwa wenn er von den «Bataillonen des Todes» (in der Tiermastindustrie) spricht oder vom «Nebel des Schicksals», aus dem allmählich die Klimakatastrophe vor uns auftaucht. Kann uns die Philosophie vor ihr bewahren? Der Autor will vielleicht nicht nur uns, sondern auch sich selbst davon überzeugen.

Bernward Gesang: Mit kühlem Kopf. Über den Nutzen der Philosophie für die Klimadebatte. Hanser-Verlag, Berlin 2020. 272 S., Fr. 36.90.

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