Sein Vater wurde zu Tode geprügelt. Die Mutter liess ihn zurück. Marxisten beherrschten das Land, es kämpfte sich von Äthiopien frei. Sulaiman Addonia erlebte all das – und er schreibt darüber

Der Schriftsteller Sulaiman Addonia hat Unmenschliches durchlebt. In seinen Büchern treibt er die Dämonen der eigenen Lebensgeschichte aus.

Manuel Müller
Drucken
Die Narbe, die Sulaiman Addonia auf der Nase trägt, ist kaum zu sehen. Sie erinnert aber an den Sturz von dem Kamel, das ihn ins Flüchtlingslager trug.

Die Narbe, die Sulaiman Addonia auf der Nase trägt, ist kaum zu sehen. Sie erinnert aber an den Sturz von dem Kamel, das ihn ins Flüchtlingslager trug.

Leemage / AFP

Nur ein Wunder könne den äthiopischen Staat in seiner jetzigen Form retten, sagte Getachew Reda kürzlich. Er ist ein Sprecher der Tigray Defense Forces (TDF). Dann fügte er gegenüber dem Journalisten der «New York Times» hinzu: «Ich glaube nicht an Wunder.»

Im November 2020 hat der Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed eine Offensive gegen die Provinz Tigray gestartet. Er nannte es eine Strafaktion, und nach drei Wochen erklärte er den Feldzug gegen die einst beherrschende politische Kraft Äthiopiens, die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), für beendet. Die Armee hatte die Hauptstadt der an Eritrea grenzenden Region eingenommen, die TPLF hingegen schwere Verluste erlitten. Viele ihrer führenden Köpfe waren verhaftet oder getötet worden; die übrigen zogen sich in die Berge zurück.

Doch das Blatt hat sich gewendet. Dazu mag beigetragen haben, dass dem Sieg der äthiopischen Streitkräfte, zu dem auch eritreische Kräfte und Milizen der Amharen beitrugen, in Tigray grossflächig Greueltaten folgten. Tausende Zivilisten starben in Massakern, Hunderte wurden vergewaltigt. Nach Angaben der Uno sind in der Provinz um die fünf Millionen Bewohner von Nahrungsmittelhilfe abhängig. Das entspricht 90 Prozent der Bevölkerung. Mehrere hunderttausend stehen vor dem Hungertod, im nahen Sudan füllen sich Flüchtlingslager.

Die Lage hat viele junge Tigriner zu den Waffen greifen lassen – in einem der am stärksten militarisierten Gebiete der Welt. Und inzwischen haben sie die Oberhand: Die Regionshauptstadt Mekele ist zurückerobert, die TDF stossen gar in Nachbarprovinzen vor. Doch im Grunde scheint all das, Bürgerkrieg, Greueltaten (von allen Seiten begangen!), Massaker, Vergewaltigungen, Vertreibung, Hunger, Flucht, nicht neu. Am Horn Afrikas, in Äthiopien, tönt es wie eine Wiederholung.

Die Kindheit im Flüchtlingslager

Vielleicht weiss das niemand besser als Sulaiman Addonia. Er ist Sohn eines Äthiopiers und einer Eritreerin, lebt heute in Europa und ist Schriftsteller. Doch sein Leben hätte nicht schrecklicher beginnen können. Als er geboren wird, liegen die eritreischen Unabhängigkeitskämpfer im Krieg mit dem marxistischen Derg-Regime Äthiopiens. Seine Familie entkommt bei einem Massaker nur knapp dem Tod, Soldaten eröffnen in einer Grenzstadt das Feuer auf Zivilisten.

Addonia ist noch ein Kleinkind, als Unbekannte seinen Vater abholen. Am nächsten Tag kehrt das Familienoberhaupt schwer verletzt zurück, er stirbt an den Folgen der Folter und der Schläge. Die Hinterbliebenen flüchten in den Sudan, sie kommen in einem Flüchtlingslager unter. Um in Saudiarabien als Bedienstete zu arbeiten, lässt die Mutter ihre Kinder bei der Grossmutter zurück. Daraufhin verstummt der kleine Sulaiman. Stundenlang hört er die Kassetten an, die seine Mutter, eine Analphabetin, aus der Fremde schickt.

Wunden der Sprache

Als er etwa zehn ist, findet man wieder zusammen, Addonia kann nach Jeddah; ein paar Jahre später gewährt ihm Grossbritannien als unbegleitetem Jugendlichem die Einreise und den Aufenthalt. Der Teenager lernt Englisch, geht auf ein College, studiert, und er verliert dabei den Kontakt zum mütterlichen Tigrinya. Dem Amharischen der väterlichen Verwandten ist er schon lange entfremdet, das Arabische, das er akzentfrei sprach, entgleitet ihm. Er lebt nun im Englischen, er schätzt das Rastlose, das Unbeheimatete, die diversen Wurzeln dieser Weltsprache, in der eigentlich nur wenige zu Hause sind. Er beschreibt den Weg seiner Vielsprachigkeit in einem Essay mit dem vielsagenden Titel «The Wound of Multilingualism».

In seinen Büchern treibt Sulaiman Addonia indes die Dämonen aus, die ihm seine Lebensgeschichte beschert hat. Das erste Buch, «Die Liebenden von Dschidda» (2015, Atlantik-Verlag; das englische Original erschien 2008), widmete sich der verbotenen Liebe zwischen einem eritreischen Flüchtling und einer Burkaträgerin in Saudiarabien. Nun liegt sein zweiter Roman auf Deutsch vor, er spielt in einem sudanesischen Lager.

Das grosse Schweigen

Es wimmelt hier von gebrochenen, gewalttätigen Gestalten. Ein Onkel missbraucht seine Enkelkinder und tröstet das Mädchen damit, dass er sie nicht entjungfern werde. Eine Hebamme will mit einer späten Beschneidung für die Ehrbarkeit einer jungen Frau sorgen. Eine Witwe ruft in der Nacht auf allen vieren nach ihrem verstorbenen Ehemann. Ein Junge, der allein mit seinem kleinen Brüderchen ins Lager gekommen ist, geht noch immer gebückt, obwohl das Kind längst gestorben ist.

Nur eines hat man hier noch oder meint zumindest, sich bis zuletzt verzweifelt daran festhalten zu müssen: eine brutale Vorstellung eigener Ehrbarkeit. Und so ist denn auch Homosexualität eine tief unter demonstrativer Männlichkeit und umfassendem Schweigen versteckte Unsäglichkeit.

Das Zentrum von Addonias Roman bildet ein Geschwisterpaar im Teenageralter. Die Schwester ist eine ehrgeizige junge Frau, die nach Höherem strebt. Sie lässt ihr Ziel, Ärztin zu werden, nie aus den Augen, ihre sexuelle Selbstbestimmung verteidigt sie ebenso vehement. Der Bruder hingegen ist stumm und wird darum und seiner Schönheit wegen von Christen wie Muslimen als Abbild der Unschuld vergöttert. Was niemand weiss: Er steht auf Männer, und er findet sein Glück.

All diese Geschehnisse taucht Sulaiman Addonia in eine Prosa, in der jeder Satz einer filmischen Einstellung gleicht. So ist es kein Zufall, dass das Buch auf einer Kinoleinwand beginnt. Oder genauer: mit einer Szenerie, die durch ein quadratisches Loch beobachtet wird, das in ein weisses Bettlaken geschnitten wurde. Damit versetzen sich die Geflüchteten nach Hause, nach Asmara ins Kino. Diese poetischen Skizzen und die versteckt-verspielten Hinweise auf historische Ereignisse, auf die Film- und Kunstgeschichte sowie auf Sulaimans Leben (die Kassetten der Mutter kommen etwa vor) sind ein Trost – in einem Labyrinth, in dem die Hoffnungen nur in neue Sackgassen führen.

Das erinnert an die Lage in Äthiopien. Denn neben der Region Tigray ist auch das Volk der Oromo in Aufruhr, die Sidama fordern eine eigene Provinz für sich, am Donnerstag ging bei Reuters die Meldung ein, dass junge Afaren mehrere hundert Somali getötet hätten. Sulaiman Addonia dürfte daran nichts erstaunen. Er weiss aber auch: Man kann es überleben. Und es gibt noch Wunder, wie dieses Buch.

Sulaiman Addonia: Schweigen ist meine Muttersprache. Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke und Rita Seuss. Orlanda-Verlag, Berlin 2021. 290 S., Fr. 31.90.

Passend zum Artikel
Weitere Themen