Was bedeutet es, Mensch zu sein?

Steffen Mensching sucht mit heiterer Ernsthaftigkeit Antworten „In der Brandung des Traums“

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selten wird ein Gedichtband Außerirdischen gewidmet – doch im Falle von Steffen Menschings jüngstem Werk widerfährt den noch unbekannten Lyrikfreunden diese Ehre in heiterer Ernsthaftigkeit. So zumindest, wenn man das eröffnende Gedicht Himmlische Botschaft als Widmung und inhaltliche Programmatik zur Gedichtsammlung In der Brandung des Traums auffassen möchte. Hinter der vordergründigen Heiterkeit, welche sich mit der Anrede „Liebe Außerirdische“ unvermittelt einstellt, steht eine der schwierigsten und bis heute weder von Immanuel Kant noch Jean-Luc Nancy beantworten Fragen, die da lautet: Was ist der Mensch? Leitmotivisch scheint diese Frage am philosophischen Horizont der Sammlung auf, wobei die 95 Gedichte stets sehr unterschiedliche Facetten dessen beleuchten, was es heißt, Mensch zu sein.

Die gleiche Frage stellten sich auch jene Wissenschaftler, die 1977 für die interstellaren Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2 Bild- und Audio-Informationen auswählten, um sie ihnen mit auf den Weg zu geben. Hinter der weltraumreisenden Souvenirsammlung steht der Wunsch, intelligentes außerirdisches Leben auf die Existenz der Menschen hinzuweisen bzw. – wenn wir so weitermachen – Zeugnis abzulegen, dass es uns gegeben hat. Die reizvolle und zugleich undankbare Aufgabe der Wissenschaftler bestand darin, anhand von wenigen Fotos, Zeichnungen, Musikstücken und Grußworten zu umreißen, was es bedeutet, Mensch zu sein. Dieses Unterfangen greift Mensching im ersten Gedicht auf und mutmaßt, dass das überwiegend folkloristische Sammelsurium unseres irdischen Alltags, welches als interstellare Visitenkarte durchs All saust, die Neugier und den Neid der Außerirdischen erwecken könnte, 

[…] weil wir, im Gegensatz zu euch, nachweislich
im Gleichgewicht leben, das heißt, ohne Angst, Mangel,
Gewalt oder Hass, auch der Tod oder das rüde Auslöschen
der Vitalfunktionen, das bei euch Usus ist, existiert nicht […].

Doch wenn unsere außerweltlichen Freunde erstmal hier sind, um einen Blick auf die verheißungsvolle, bunte und vermeintlich heile Erdenwelt zu werfen und das Geheimnis unseres Glücks zu erfahren, 

[…] werdet ihr den Braten riechen, Reklame
vermuten, Ideologie, oder wie die Krankheit
der Verblendung bei euch genannt wird, und befürchten,
dass wir euch womöglich an Grausamkeit übertreffen, 

ihr werdet unsere Bilder auf einem kontaminierten Nebenstern
verbannen, unzugänglich für zehntausende Lichtjahre,
die Erinnerung an den Zwischenfall aus allen Protokollen
löschen und den Raumgleitern, die bereits Richtung Erde

unterwegs sind, das Kommando zur sofortigen Umkehr
erteilen, eure Piloten werden alle Funksprüche aus dem Äther
filtern, maximale Schubkraft aufnehmen und an der Erde
und uns vorbeirasen, wenn ihr vernunftbegabt seid.

Bilder von Krieg, Hunger, Armut, Zerstörung, Umweltkatastrophen, Leid und Trauer schickten sie nicht auf Reisen, die gibt’s als besondere Überraschung nur im Original zu besichtigen. Es ist jedoch keineswegs Menschings Anliegen, nun ausschließlich das Abgründige und Düstere auszuleuchten und an die Oberfläche zu holen. Dann wären die Texte selbst oberflächlich, würden sie doch die fundamentale Widersprüchlichkeit unseres menschlichen Wesens ausblenden. Mit dialektischem Geschick und ironischer Distanz gelingen kleine poetische Psychogrammskizzen unserer Zeit – nicht ohne Augenzwinkern.

Britta, die 18-jährige
FSJ-lerin aus Sachsen-Anhalt,
Mutter Laborantin, Vater Chef
einer Baumschule, sagt, ich
habe versucht, die Welt
zu retten, zwei Jahre lang
kein Fleisch gegessen, aber jetzt
muss ich auch mal
an mich denken, ich will etwas
Kreatives machen, irgendwas
mit Kunst, vielleicht
finde ich aber auch noch
einen reichen Mann.

Brittas gibt es viele – um die eine oder andere zu treffen, reicht ein kurzer reflektierter Abstecher in die eigene Vergangenheit. Die Gedichte wollen weder urteilen, noch verurteilen, niemanden bloßstellen oder anklagen, die Figuren, denen wir bei der Lektüre begegnen, sind uns bestens aus unserem Alltag bekannt, manchmal steht nur ein Spiegelglas zwischen uns.

Meine Eltern wurden immer
kleiner, sie aßen immer weniger
und gingen seltener hinaus, die Welt
regte sie weniger auf, sie blieben
freundlich miteinander, zärtlich
und stritten sich noch seltener
als früher, mein Vater suchte
verzweifelt nach Worten, meine Mutter
fing Spinnen, Käfer und Fliegen
in Kühlschrankdosen und befreite
sie auf dem Balkon, die Erde,
dachte ich, wäre ein besserer Ort,
vermehrten sich Leute wie sie.

Steffen Menschings Gedichte sind trotz der einleitenden himmlischen Botschaft fest im Hier und Jetzt verwurzelt, sie schmeicheln dem Alltäglichen mit wohlgesinnter Aufmerksamkeit, geben dem flüchtigen Moment ein Zuhause und dem Unscheinbaren und Beiläufigen eine Bühne. Dies geschieht ohne Überhöhung, ohne Verklärung, ohne Pathos, allein die pointiert eingesetzte Sprache, die wohldosiert zur rechten Zeit ihre aufhellende Wirkung entfaltet, eröffnet erheiternde sowie melancholische und nachdenklich stimmende Einblicke in das menschliche Dasein. So lässt sich In der Brandung des Traums als poetische Bestandsaufnahme unserer Zeit lesen, mit all ihren Schwächen und Potentialen, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen Wachen und Träumen.

Titelbild

Steffen Mensching: In der Brandung des Traums. Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
104 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835339385

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