Als die französische Schriftstellerin Annie Ernaux unter den Händen einer Engelmacherin fast verblutete

1964 waren Abtreibungen in Frankreich verboten. So ging Annie Ernaux, wohin die Frauen damals gingen in einer solchen Situation. Erst Jahrzehnte später konnte sie das quälende Ereignis literarisch verarbeiten.

Paul Jandl
Drucken
Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux.

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux.

Olivier Roller / Suhrkamp

Die Zeit ist in das Werk der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux eingeschrieben. Verlorene Lebenszeit, die wiedergefunden wird, wenn man darüber schreibt. Die Zeit, wie sie sich in Katastrophen dehnt und im Glück wieder zusammenschnellt. Es ist eine finstere Pointe zum Werk der 81-Jährigen, wie sehr sich seine Zeitlosigkeit gerade beweist. In Frankreich sind es das Rassemblement national und Marine Le Pen, die im Präsidentschaftswahlkampf offen mit Abtreibungsgegnern sympathisieren. In Texas wurde gerade auf verfassungswidrige Weise das Abtreibungsgesetz verschärft. Zur gleichen Zeit holte die Verfilmung des Buches «L’événement» von Annie Ernaux bei den Filmfestspielen in Venedig den Goldenen Löwen. Sein autobiografisches Thema: eine Abtreibung.

Was im Jahr 1964 geschehen ist, als die Studentin und spätere Schriftstellerin ungewollt schwanger war und zu einer, wie es damals noch hiess, Engelmacherin ging, blieb lange Zeit in sprechender Verschwiegenheit. Das 1974 erschienene Romandebüt «Les armoires vides» von Annie Ernaux kreist unkonkret, aber heftig um das Ereignis.

Erst im Jahr 2000 wird es wirklich zum Buch. Es heisst «L’événement». Ist diese Genese eines recht schmalen Stücks Literatur kompliziert? Und warum ist sie so kompliziert? Der Entschluss, ein Kind nicht zu bekommen, hat eine zutiefst private Seite, die ihn gerade dadurch zum Politikum macht. 1964 ist Abtreibung in Frankreich illegal. Sie ist juristisch und gesellschaftlich noch bis ins Jahr 1975 grausam tabuisiert. Auch darum geht es im erst jetzt auf Deutsch erschienenen Buch «Das Ereignis».

Es geht alles schief

Die Literatur- und Soziologiestudentin Ernaux ist 23, als es passiert. Nach ein paar Nächten mit einer flüchtigen Bekanntschaft wird aus einer Vermutung Gewissheit. Schwanger zu sein, ist die Katastrophe junger Frauen. Je tiefer sie gesellschaftlich stehen, umso grösser die Katastrophe. Was Ernaux distanziert ein «Ereignis» nennt, wird zur Abwärtsspirale. In einen Sumpf aus Heuchelei, hypermoralischer Frauenverachtung und Geschäftstüchtigkeit geht es immer tiefer.

Kein Arzt, der sich der Sache angenommen hätte, und nach langem Suchen nur die eine Rettung: eine Hilfskrankenschwester, die in einem üblen Pariser Viertel das zum Eingriff benötigte Besteck am Küchenherd auskocht. Annie Ernaux beschönigt in ihren von Sonja Finck gnadenlos präzise übersetzten Beschreibungen nichts. Es ist die blutige Geschichte einer verzweifelten Einsamkeit. Im Kopf der jungen Studentin kreisen fragwürdige französische Schlager über die Liebe, während die Engelmacherin die 400 Francs in ihre Tasche zählt.

Nebenberufliches Ethos der alten Frau in Kittelschürze und Pantoffeln ist es, verlässlich zu arbeiten, aber hier geht alles schief. Nach Tagen droht die Kundin zu verbluten. Das Vorhaben hat mittlerweile geklappt, aber die echten Ärzte, in deren Hände Annie jetzt fällt, werden zur neuen Katastrophe. Zum furiosen moralischen Über-Ich, das die da ganz unten spüren lässt, dass sie nur Dreck sind.

Annie Ernaux, die damals noch Duchesne hiess, ist das Kind von Fabrikarbeitern. In den Augen der Ärzte eines jener gefallenen Mädchen, deren Sturz sie gewohnheitsmässig gar nicht erst aufzuhalten versuchen. «Ich bin doch nicht der Klempner!», brüllt einer der Ärzte die gerade noch dem Tod entkommene Patientin an.

Aus dem Jahr 1964 hallt dieser Satz bis in die Gegenwart nach. «Weder die Wiederholung noch die gesellschaftspolitische Einordnung können seine Gewalt schwächen: Ich hatte so etwas nicht ‹erwartet›.» Erst als sie am Ende erfahren, dass die Patientin studiert, hellt sich der Blick der Ärzte auf. Für die bürgerliche Klasse gelten grosszügigere moralische Standards.

Das Ich retten

Nie erzählt Annie Ernaux ihre Lebensgeschichte im Pastell der Gefühle, sondern sie sucht Abstand dazu. Die Fotos und Tagebücher, mit denen sie arbeitet, stehen für etwas Originales, das beim Schreiben nur zur Fälschung werden kann. An keiner Stelle will die Autorin das unterschlagen und arbeitet deshalb auch in «Das Ereignis» mit ihrer bewährten soziologischen Methode. «Die Erschütterung, die ich empfinde, wenn ich die Bilder aus jener Zeit vor mir sehe, wenn ich die Worte noch einmal höre, hat nichts damit zu tun, wie ich damals empfand, es ist nur ein Schreibgefühl. Damit meine ich: ein Gefühl, das das Schreiben ermöglicht und seine Wahrhaftigkeit garantiert.»

Um das Ich zu retten, rationalisiert Ernaux das Soziale. Weil das Ich dabei aber nicht ausgenommen wird, entstehen jene überscharfen Bilder, die «Das Ereignis» zur Zumutung machen. Sich selbst diesen Text zuzumuten, war für Annie Ernaux eine Notwendigkeit. Schreibend herauszufinden, warum er geschrieben werden muss.

Warum er geschrieben wurde, das könnten auch jene herausfinden, die die Gesetzgebung in jene Zeiten zurückführen wollen, als diese Geschichte begann. Über den Mann, der tatkräftig zu dem Ereignis beigetragen hat, das der jungen Pariser Studentin widerfahren ist, steht im Buch übrigens wenig. Er soll viel und gerne spazieren gegangen sein.

Annie Ernaux: Das Ereignis. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2021. 104 S., Fr. 27.90.

Passend zum Artikel

Mehr von Paul Jandl (Jdl)