Im Schatten der Ärzte

Der Musikjournalist Stephan Rehm Rozanes liefert ein wunderbar unterhaltsames Kurzporträt der „Besten Band der Welt“: Die Ärzte

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Reihe 100 Seiten, die seit einigen Jahren im Reclam-Verlag erscheint, verfolgt das etwas unübersichtliche Konzept, einen „schnellen Überblick zu zeitgenössischen Themen im unterhaltsamen, persönlichen Stil in moderner Gestaltung“ (Eigenwerbung) anzubieten. So finden sich in der Reihe Bände zu Popmusikern, soziopolitischen Phänomenen, historischen Figuren, Erscheinungsformen aus der populären Kultur bis hin zu diversen Problemfeldern der modernen Gesellschaft; die neuen Folgen schließen demnach Bände zu Lego, E.T.A. Hoffmann, Depression und eben auch den „Ärzten“ ein.

Nun sind mit den „Ärzten“ nicht etwa die Mitglieder der medizinischen Zunft gemeint, denen gerade in Corona-Zeiten ja durchaus etwas Tribut gezollt werden könnte (und was bei dieser äußerst heterogenen Reihe ja nicht ungewöhnlich wäre). Nein, Musikexpress-Redakteur Stephan Rehm Rozanes schreibt über das Phänomen jener kleinen Berliner Punk-Band, die in den letzten fast 40 Jahren zu einer der erfolgreichsten, auf jeden Fall aber zur ungewöhnlichsten deutschen Popband avanciert ist. Man mag die Songs der Ärzte als infantile, repetitive Pop-Persiflage wahrnehmen, doch es ist unbestritten, und genau hierauf legt Rehm Rozanes auch seinen Fokus, dass es zu dieser als Gesamtkonzept äußerst faszinierenden Band sehr viele interessante Geschichten zu erzählen gibt.

Wie meist in der Reihe erzählt der Verfasser keinesfalls die lineare Entwicklungsgeschichte der Band, sondern versucht sich vielmehr dem Phänomen „Die Ärzte“ zu nähern, ohne dabei den Haupt-Fokus auf die Musik der Band zu legen. So entsteht ein Porträt, das nicht zuletzt auch an Menschen gerichtet ist, die, wie der Rezensent, mit eben dieser Musik nur wenig anfangen können. Die unorthodoxe Karriereplanung der Band und die Mechanismen, nach denen sie seit fast vier Jahrzehnten funktioniert, wirft jedoch eine Unzahl interessanter Anekdoten ab, die einfach erzählt werden müssen. Also erfährt man einiges zum Indizierungsskandal um Songs wie „Geschwisterliebe“ und „Claudia hat ‘nen Schäferhund“, als einige Platten der Band aufgrund ihrer „jugendgefährdenden“ Texte nur an Erwachsene verkauft werden durften. Das Buch erzählt aber auch von den originellen Methoden, mit denen die Band immer wieder versucht hat, diese Indizierung zu umgehen. So hat sie ihrer 1989 erschienenen Dreifach-Live-LP Nach uns die Sintflut eine 45er-Single namens „Der Ritt auf dem Schmetterling“ beigelegt, auf der sie die Fans „Geschwisterliebe“ singen lassen. Für den Fall einer Indizierung auch des Live-Albums hätte man also nur die Single entfernen müssen.

Aber auch die Frage, wie in einer Zeit der Cancel Culture gerade eine politisch zwar gutmeinende, aber niemals korrekte Band wie die Ärzte noch weiterexistieren kann, wird ausführlich und kritisch behandelt; nicht zuletzt auch anhand von Aussagen der Musiker selbst, die sich in Bezug auf diese Problematik keinesfalls auf ihrem Status ausruhen, sondern durchaus kritisch reflektieren, wie eine Band wie Die Ärzte überhaupt noch in die heutige Zeit passt.

Hier greift das Konzept der Reihe außerordentlich gut, denn anders als die artverwandte (wenn auch nur auf Popmusik und prominente Autoren*innen beschränkte) Musikbibliothek des KiWi-Verlags verlieren sich die Verfasser (und hier ließe sich die Reihe zu Andreas Rauschers wunderbaren Buch über Star Wars bis hin zum bereits erwähnten Lego-Band von Bettina Schnerr fortsetzen) nicht in endlosen, repetitiven Geschichten, die man in besserer Form bereits in ihren anderen Büchern gelesen hat, sondern konzentrieren sich auf das wesentliche: Dem Durchschnittsbürger ein Phänomen zu erklären, für das sie selbst eine große Leidenschaft hegen. Es kommt auch die persönliche Komponente ins Spiel, denn dass Rehm Rozanes großer Ärzte-Fan ist, wird schon nach wenigen Seiten allzu deutlich.

Wem es also zu müßig ist, die beiden vorhandenen, überbordenden Ärzte-Biographien Ein überdimensioniertes Meerschwein frisst die Erde auf und Das Buch Ä zu lesen, der kann auch auf diesen wunderbar unterhaltsamen und gut geschriebenen 100 Seiten einen optimalen Überblick über das Schaffen und die Bedeutung der Band bekommen.

Titelbild

Stephan Rehm Rozanes: Die Ärzte. 100 Seiten.
Reclam Verlag, Stuttgart 2021.
100 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150205839

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