Cécile Wajsbrot: "Nevermore":Seele unterwegs

Cécile Wajsbrot: "Nevermore": Vieldeutig schillernde Sinnnuancen: Cécile Wajsbrot.

Vieldeutig schillernde Sinnnuancen: Cécile Wajsbrot.

(Foto: Christian Thiel/Imago Stock&People/Wallstein Verlag)

Was kann man bergen aus dem Verrinnen der Zeit? Die Schriftstellerin Cécile Wajsbrot geht mit ihrer Ahnin Virginia Woolf im Kopf durch das wiederaufgebaute Dresden.

Von Joseph Hanimann

Viel kann passieren bei einer Fahrt aufs Meer hinaus zum Leuchtturm. In Virginia Woolfs Roman "To the Lighthouse" treiben, bevor es zum lang verzögerten Ausflug vor der schottischen Insel Skye kommt, die Gedanken, Erinnerungen, Assoziationen und Spekulationen im Wirbel der inneren Monologe dicht umeinander. Bei dem hier vorliegenden Buch bestehen die Wirbel aus Sprache, genauer: aus mehreren Sprachen. Die Erzählerin hat sich für ein paar Wochen in der deutschen Stadt Dresden niedergelassen, um das mittlere Kapitel "Time passes" aus dem Roman von Virginia Woolf ins Französische zu übersetzen. Und schon gerät alles in Bewegung im Fluidum zwischen den Sprachen, auf dessen sich kräuselnder Oberfläche die Sinnnuancen vieldeutig schillern.

Die Pariser Autorin und Übersetzerin Cécile Wajsbrot, die längere Zeit in Berlin gelebt hat, ist für ihren feingliedrig nach innen gekehrten Erzählstil bekannt, der statt eines klaren Handlungsverlaufs eher ein Netz subjektiv geknüpfter Themen aufspannt. Aus narrativen Ereignissegmenten, essayistischen Exkursen und tagebuchartigen Notizen entsteht hier nun ein komplexes Textgefüge, für das die im Titel angeführte Bezeichnung "Roman" nicht so recht passt.

Die Nähe ihrer Freundin ist manchmal nur in einer Stimme oder flüchtigen Erscheinung da

Die zwanzig Seiten von "Time passes", auf denen Virginia Woolf in ihrem Roman das Vergehen der Zeit in seiner Unmittelbarkeit, nicht im Spiegel einer Erzählung darstellen wollte, kann man bei Wajsbrot praktisch vollständig im Original auf Englisch mitlesen, in einzelnen Sätzen übers ganze Buch verteilt. Um diese Satzstücke treiben Wajsbrots eigene Überlegungen, Spuren des zögernden Vorantastens als Übersetzerin. Fast könnte man dieses Buch als reflektierendes Arbeitsprotokoll eines Übersetzungsprojekts lesen, wäre da nicht die mit wachsender Dringlichkeit sich meldende Anwesenheit einer verstorbenen Freundin.

Bei ihren Gängen durch die aus dem Bombenschutt wiedererstandene Stadt und bei ihrem Suchen nach den richtigen Ausdrücken für Virginia Woolfs Text über das unwiederbringliche Verrinnen der Zeit spürt Wajsbrots Erzählfigur manchmal die Nähe ihrer Freundin in Form einer Stimme oder einer flüchtigen Erscheinung. "Es war kein Gespenst, kein Schatten", schreibt sie, sondern etwas, mit dessen Benennung sie wohl nur Gelächter ernten würde, und doch sei das Wort beim Vorbeigehen an der Dresdener Kreuzkirche ganz natürlich gekommen: "Die Seele. Das war es, was mich begleitete, die Seele eines Lebens, das es nicht mehr gab und doch noch gab".

Cécile Wajsbrot: "Nevermore": Cécile Wajsbrot: Nevermore. Roman. Aus dem Französischen von Anne Weber. Wallstein, Göttingen, 2021. 228 Seiten, 20 Euro.

Cécile Wajsbrot: Nevermore. Roman. Aus dem Französischen von Anne Weber. Wallstein, Göttingen, 2021. 228 Seiten, 20 Euro.

Solche ans Mystische grenzenden Empfindungen sind literarisch schwer vermittelbar. Es gelang der Autorin des Buchs aber, durch ein immens breit geknüpftes Geflecht bald spontaner, bald recherchierter Assoziationen einen Teppich der Erwartungen auszulegen, der zum Weiterlesen anspornt und die manchmal sich aufdrängende Frage vertreibt, was diese Geschichte uns denn angehe. Von der Entstehung des Roman "To the Lighthouse" reichen die Assoziationseinschübe über Motive bei Herman Melville, Upton Sinclair, Otto Dix, die im Krieg zerbombte Kathedrale von Coventry und das zerstörte Dresden, Benjamin Brittens "War Requiem", bis zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und zur Ursache des Bienensterbens laut Vergil in seinen "Georgica". Eindringlich zieht sich überdies das Echo von Glockenklang durch das ganze Buch, musikalisch von den Komponisten Berlioz, Debussy, Rachmaninow, Heinrich Johannes Wallmann, real als im Krieg eingeschmolzene oder zerstörte Glocken oder als der in unseren Alltag hineinklingende Stundenschlag. Und vom Buchtitel her hallt über dem Ganzen das "Nevermore" aus den Gedichten von Edgar Allen Poe und Paul Verlaine.

Die Stringenz so lose geknüpfter Assoziationsmuster mag nicht jedem einleuchten. Fragt man die Quelle aber nach ihrem Bauplan? Wer für solche offene literarische Formen empfänglich ist, wird viel aus dem Buch mitnehmen. Und dass die Übersetzung von der Schriftstellerin Anne Weber, einer der Autorin Cécile Wajsbrot komplizenhaft verbundenen Kollegin besorgt wurde, ist der nicht geringste Reiz dieses literarischen Selbstgesprächs für Kenner und Liebhaber.

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