Die Lippen so rot vom Blut

von | 23.09.2021 | Buchpranger, Graphic Novels, Comics, Manga

Mit den Illustrationen von Colleen Doran wurde der Kurzgeschichte von Neil Gaiman „Snow, Glass, Apples“ von 1994 neues Leben eingehaucht. Nun bringt Splitter diese schaurige Neu-Interpretation eines Kultmärchens als Comic auch in deutscher Sprache an die Leserinnen und Leser. Geschichtenerzähler Adrian ist darin eingetaucht.

Einige Zeit, nachdem seine Frau im Kindbett verstarb, trifft der König auf eine junge und hübsche, blonde Frau, mit der er nicht nur eine Affäre beginnt, sondern diese kurz darauf zu seiner Königin macht. In ihrem Heim angekommen, lernt die junge Königin auch bald schon die Tochter des Königs kennen: ein junges Mädchen mit schwarzen Haaren und weißer Haut.

Jedoch ist dieses erste Zusammentreffen nicht von Erfolg gekrönt, denn kaum haben sich die beiden jungen Frauen einander angenähert, versenkt die junge Prinzessin auch schon ihre scharfen, spitzen Zähne im Handballen der Königin und labt sich an ihrem Blut. Als kurz darauf der König, ausgelaugt und beinah blutleer, stirbt, verschwindet die Prinzessin aus dem Schloss. Die Königin, um das Wesen ihrer Stieftochter wissend, schickt ihr Häscher auf den Hals, um ihr Herz zu holen.

Altbekannt und doch neu

So bekannt die Geschichte um die Prinzessin mit den Lippen so rot wie Blut, der Haut so weiß wie Schnee und dem Haar so schwarz wie Ebenholz ist, ebenso eingestaubt ist sie. Viele Neuverfilmungen und Uminterpretationen haben sich schon daran versucht, diesen Staub wegzublasen. Jedoch läuft es stets auf dasselbe hinaus: Prinzessin gut, Königin böse.

Umso erfrischender ist der Ansatz, den Gaiman mit seiner Geschichte verfolgt. Nicht nur, dass er die Prinzessin zu einer blutlüsternen Vampirin macht, sondern es werden auch gleich noch die Rollen vertauscht. Hier ist nicht die Königin die Böse, sondern das scheinbar unschuldige, bleiche Mädchen. Dabei nimmt Gaiman keine Hand vor den Mund und spielt offen mit Tabus, wie etwa Nekrophilie – als die sexuelle Anziehung zu Toten – und allgemein Sexualität und Nacktheit.

Märchenhafte Bilder

Colleen Doran macht kein Geheimnis daraus, dass sie sich bei ihren Bildern stark an dem irischen Künstler Henry Clarke hat inspirieren lassen. Ihre Danksagung gilt diesem. Mit eben jener Zeichenart trifft Doran genau das Gefühl, das die Geschichte vermitteln will: märchenhaft, erwachsen und mit einer beinah tänzerischen Dynamik.

Doran hat in diesem Comic weitestgehend auf die für Comics eigentlich typischen Panelrahmen verzichtet. Nur in kurzen Sequenzen kehrt das Design zu der bekannten Comicoptik zurück. Die meisten Seiten ähneln einer Collage aus Situationen, die zum Text passen. Dabei fließen die Bilder ineinander über und dennoch bleiben die Illustrationen in ihrer Reihenfolge verständlich und nachvollziehbar. Es ergeben sich ganzseitige Gesamtbilder in einem eleganten und detailverliebten Design, die in das Geschehen hineinziehen. Dies erzeugt einen stark immersiven Flow beim Lesen und Betrachten der Seiten. Darüber hinaus gelingt es Doran auch düstere Szenarien mit entsprechenden Schatten und Farbgebung zu inszenieren.

Aus alt mach neu

Blättert man den Comic „Snow, Glass, Apples“ durch und achtet einzig auf die Bilder, ist jede collagenähnliche Seite gleich einem Kunstwerk, das man sich vergrößert an die Wand hängen könnte. Jede dieser Collagen trägt so viel Dynamik und Farbenpracht in sich, dass sich das Reinschauen immer wieder lohnt.

Der Geschichte von Gaiman gelingt es, mit einer Neu-Interpretation eines Kultmärchens einen überzeugenden Schauer zu erzeugen und Mitgefühl für die Königin zu entwickeln. Ein in allen Aspekten gelungener Comic, den ich allen nur wärmstens ans Herz legen kann.

Snow, Glass, Apples. Autor: Neil Gaiman. Illustration & Adaption: Colleen Doran. Übersetzung: Gerlinde Althoff. Splitter. 2021.

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