Einige Tage nach dem Jahreswechsel wurde ein Bekannter von mir tot in seiner Wohnung aufgefunden. Ich erfuhr durch einen gemeinsamen Freund davon. Peter war in meinem Alter gewesen. Er hatte eine erfolgreiche Praxis als Psychotherapeut geführt, kannte Gott und die Welt und konnte Menschen schnell mit seinem Charme und seinem Witz für sich einnehmen. Von außen betrachtet führte er ein wunderbares Leben. In den vergangenen Monaten hatte ich seine Anrufe weitgehend ignoriert. Wie bei vielen anderen schwulen Männern, die ich kannte, hatte sich sein anfangs noch unbeschwertes Nachtleben über die Jahre in eine schwere Abhängigkeit verwandelt, mit all ihren dramatischen Konsequenzen. Ich hatte ihn kennengelernt, als er sich zum ersten Mal Hilfe suchte. Nachdem er ein Jahr ohne Crystal Meth, GHB und MDMA gelebt hatte, jene Drogen, die ihm dabei halfen, unbeschwert Sex zu haben, begann ein Auf und Ab aus Rückfällen und Phasen der Hoffnung. Den Menschen in seinem Leben brach es das Herz. Er starb an einer Überdosis. Der Mann, mit dem er in der Nacht zusammen gewesen war, war vom Ort des Geschehens geflohen. Es ließ sich nicht sagen, ob es sich bei Peters Tod um einen Unfall handelte, ob er umgebracht worden war oder ob er sich das Leben nehmen wollte.

Die Nachricht von seinem Tod kam zu einer Zeit, in der mich trotz gelegentlicher Hoffnungsschimmer immer wieder ein Gefühl der Trostlosigkeit einholte. Die Pandemie hielt nun schon fast ein Jahr an. Ich hatte Weihnachten nach einigen Vorbereitungen wieder mit Marie, Olaf und John verbracht, aber davor oder danach wenige Leute gesehen, und wenn, dann nur zum Spazierengehen. Ich hatte aufgehört, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die Museen, Kinos, Opern, Theater und Konzertsäle der Stadt waren inzwischen so lange geschlossen, dass ich fast vergessen hatte, dass es sie gab. Vieles von dem, was mein Leben einst zusammengehalten hatte, war schlicht nicht mehr existent. Ich hatte seit fast einem Jahr keinen Menschen mehr angefasst, bis auf seltene spontane Ausrutscher niemanden mehr umarmt.

Dieser Text ist ein Auszug aus Daniel Schreibers Essay "Allein". Das Buch erscheint am 27.9.2021 im Verlag Hanser Berlin. © Hanser Berlin

Nach den Feiertagen hatten die Fallzahlen zudem welt- weit einen neuen Höchststand erreicht, und in Großbritannien und Südafrika waren leichter übertragbare und gefährlichere Virusvarianten entdeckt worden, die sich wahrscheinlich auch im Rest der Welt schnell ausbreiten würden. Und die Todesfälle um mich herum schienen sich zu häufen, die Eltern von Freundinnen und Freunden waren darunter, aber auch Menschen wie Peter. Ich war nicht der Einzige, dem es so ging. Ich fragte mich, mit wie vielen Traumata, sollte die Pandemie wirklich bald enden, wir in den nächsten Jahren leben lernen müssten.

Es war nicht verboten, zu verreisen, aber es wurde in deutlichen Worten davor gewarnt. David, Rafa, zwei meiner besten Freunde, und ich hatten die vergangenen Wochen hin und her überlegt, ob wir wirklich fliegen sollten. Wir hatten den Urlaub auf Lanzarote im Sommer geplant, als kaum jemand wirklich glauben wollte, dass uns die Pandemie auf die eine oder andere Weise mehrere Jahre lang begleiten würde. Bei einem langen Spaziergang ein paar Tage kurz vor unserem Flug fragte ich Gabriele, eine siebzigjährige Freundin, deren klugen Einschätzungen ich fast immer vertraute, ob es moralisch wirklich vertretbar sei, in diesen Zeiten Urlaub in der Sonne zu machen. Eigentlich nicht, meinte sie, aber natürlich solle ich fliegen. Trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten, Hindernisse und Risiken. Es würde mir guttun und man müsse solche Ausnahmen machen, wir alle machten sie, anders könne man Situationen wie diese nicht überstehen.

Spätestens als wir uns Famara, einer Siedlung an der Westküste der Insel, näherten, wusste ich, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, herzukommen. Über den vulkanischen Feldern und Bergen, deren Farben von hellem Rostrot in tiefes Schwarz übergingen, wölbte sich ein strahlend blauer Frühabendhimmel. Am Horizont konnte man die Gischtstreifen der bewegten Meeresbucht erkennen. Palmen zogen an uns vorbei, und die ganze fremde, mondartig schöne Landschaft war mit hellgrünen Tupfern übersät, kleine Pflanzen und Sträucher, die nach dem Regen ein paar Tagen zuvor ausgetrieben hatten. Mein Körper, in dem noch der Berliner Winter herrschte, jubilierte. Wir hatten das Dach des Cabrios heruntergelassen. Ich spürte den warmen Fahrtwind im Gesicht, und hinter der Sonnenbrille versuchten meine Augen sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Wir waren alle drei zum ersten Mal auf der Insel. Wir erlebten all das zusammen, machten eine Erfahrung, die wir nie zuvor gemacht hatten. Mir war nicht klar gewesen, wie sehr ich diesen simplen Aspekt des Lebens vermisst hatte. 

Es fühlte sich auswegloser an

Selbst die optimistischsten alleinlebenden Menschen bringen gelegentlich zum Ausdruck, wie unwahrscheinlich sich die Vorstellung anfühlt, jemals wieder Teil einer Liebesbeziehung zu werden. Ich erinnere mich an unzählige frühere Gespräche mit Freundinnen und Freunden, in denen sie mir genau von dieser Form der Hoffnungslosigkeit berichteten, von ihrer Empfindung, ausgeschlossen zu sein von der Welt derjenigen, die lieben und geliebt werden können. Ich habe das damals nie richtig verstanden und ihnen immer gesagt, dass ihr Blick auf ihre Situation verzerrt sei. Nun, da sich das Blatt gewendet hatte, die meisten dieser Freundinnen und Freunde in Beziehungen lebten und ich allein war, dachte ich darüber, wie gesagt, anders.

Allerdings fragte ich mich, ob Hoffnungslosigkeit wirklich das richtige Wort dafür war, was ich empfand. Irgendwie fühlte es sich gefasster und zugleich auswegloser an. In seinem Buch Wie zusammen leben führt Roland Barthes in diesem Zusammenhang den Begriff der Akedia ein, einen Begriff, der ein größeres Echo in mir fand. Mit der ursprünglich aus dem frühen Christentum stammenden Idee meint Barthes eine "Beklommenheit", eine "Bitterkeit", eine "Trockenheit des Herzens". Akedia beschreibt für ihn nicht den Verlust des Glaubens an die Liebe, sondern den Verlust des Interesses daran. Er definiert sie als "Unerregbarkeit", die "Unfähigkeit zu lieben" und fügt folgende Worte an, um diesen Zustand genauer zu beschreiben: "Geängstigt, weil ich nicht weiß, wie ich zu der Großzügigkeit meines Lebens – oder zur Liebe – zurückfinden soll. Wie lieben?" Genau das war es, was ich spürte. Was ich mich fragte.

Barthes war nicht der einzige, der über die Auswirkungen romantischer Hoffnungslosigkeit in seinem Leben nachdachte. Auch der Psychologe Walt Odets, der seit vielen Jahrzehnten eine psychotherapeutische Praxis in Berkeley führt, hat sie immer wieder reflektiert. In seinem Buch Out of the Shadows zeigt er unter anderem, dass solche Gefühle unter schwulen Männern besonders weit verbreitet sind. Ich glaube, das stimmt für viele queere Menschen, seien sie lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender. Für viele von uns scheint eingetreten zu sein, wovor wir als Jugendliche, häufig sogar in bester Absicht, gewarnt worden waren: dass unsere Andersartigkeit für ein Leben sorgen würde, das wir allein, ohne Liebe, verbringen werden.