Svenja Leiber: "Kazimira"

Spröde Hüterin des Bernsteins

06:20 Minuten
Cover von "Kazimira" von Svenja Leiber
Svenja Leiber erzählt in ihrem Roman von Frauenschicksalen, die über Jahrhunderte miteinander verbunden sind. © Deutschlandradio / Suhrkamp
Von Miriam Zeh · 24.09.2021
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Vom Bernsteinabbau in Ostschlesien und einem vergessenen Massaker der SS erzählt Svenja Leiber. Über vier Generationen folgt sie dafür einer Familie, die Schmerz und Widerständigkeit der Titelheldin in sich trägt – eine sprachmächtige Aufarbeitung.
Bernstein ist aus der Mode gekommen. Hierzulande interessiert sich kaum noch jemand für goldbraune Harz-Ketten, Broschen und Anhänger mit oder ohne eingeschlossene Insekten und Pflanzenteilen.
Ebenso vergessen ist ein Massaker, das sich im Januar 1945 nahe des Bernsteinbergwerks in Palmnicken ereignet. In dem ostpreußischen Küstenort trieb die SS etwa 3.000 Menschen ins Eismeer, jüdische Gefangene, hauptsächlich Frauen, aus dem aufgelösten Außenlager des KZ Stutthof. Eigentlich hätten sie in der Bernsteingrube Anna arbeiten sollen. Doch dieser Plan scheiterte am Widerstand der Werksführung.

Sonderbare Kazimira

Svenja Leiber gräbt in ihrem Roman nicht nur diese letzte Massenhinrichtung des Zweiten Weltkriegs wieder aus. Sie ergänzt die Historie auch um eine sibyllinische Heldin, die sich den Nationalsozialisten entgegenstellt: Kazimira. Die spröde Frau ist der Mittelpunkt dieses groß angelegten und akribisch recherchierten Generationenromans. Ihr ganzes Leben verbringt sie an der Kurischen Nehrung, nah an der Ostsee und dem Bernstein. Hier überdauert sie alle.
Als ungetaufter Sonderling von ihren Mitmenschen gemieden, bezeugt Kazimira stumm, aber aufmerksam, den Bau des ersten Bernsteinbergwerks Ende des 19. Jahrhunderts. Insbesondere die ertragreiche Annagrube soll ihren Besitzer, den jüdischen Unternehmer Moritz Hirschfeld, zu einem reichen Mann machen.

Boom des Bernsteinabbaus

Auch Kazimira und ihr Mann, ein geschickter Bernsteinschnitzer, profitieren zunächst von der Industrialisierung des Küstenstrichs. Aus ihrer rauchigen Fischerhütte können sie in die Arbeitersiedlung am Bernsteinwerk ziehen, in ein Häuschen mit Küche. Doch auch hier mag Kazimira sich nicht in diese Gesellschaft fügen. Sie verliebt sich in eine Frau, schneidet sich die Haare ab und näht sich Hosen.
Die Emanzipationsgeschichte ihrer widerspenstigen Heldin und deren Kinder und Kindeskinder verfolgt Svenja Leiber entlang der Geschichte Ostpreußens, vom Beginn des Kaiserreichs über den schwelenden Antisemitismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Nicht alle Figurenschicksale beschreibt die Autorin dabei mit gleicher Ausführlichkeit. Doch gekonnt hält sie die vier Generationen in wenigen, präzise erzählten Szenen zusammen.

Trauma bis in die Gegenwart

Durchbrochen ist der historische Handlungsstrang von einer Zeitebene im Jahr 2012. Auch die alleinerziehende Mutter Nadja verdient ihren Lebensunterhalt im Bernsteinwerk. Aber das hat seine Glanzzeiten hinter sich. Der Bernstein-Boom auf dem chinesischen Markt kommt noch nicht an im heute russischen Gebiet. Nur ein paar verbitterte deutsche Touristen verirren sich in den Edelsteinladen, in dem Nadja arbeitet. Den Ort verlassen kann sie nicht. Irgendetwas hält sie zurück.
Svenja Leiber erzählt in ihrem Roman von Frauenschicksalen, die über Jahrhunderte miteinander verbunden sind. Den Schmerz über ein Massaker, das Kazimira nicht verhindern konnte, geben sie einander weiter. Er lastet auf ihnen und dem Bernstein. Mit sensibler Sprachmacht und angemessen großer Geste lässt Svenja Leiber in "Kazimira" die Vergangenheit lebendig werden - in ihrer ganzen Grausamkeit.

Svenja Leiber: "Kazimira"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
336 Seiten, 24 Euro

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