Efeu - Die Kulturrundschau

Rettet Ironie die Würde?

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25.09.2021. Die Theaterkritiker lassen sich von Stefan Bachmann in Düsseldorf angenehm überfordert durch Rainald Goetz' "Reich des Todes" führen. Der Tagesspiegel sucht derweil den Schock, wenn Florentina Holzinger an der Voksbühne Imaginationen von Weiblichkeit mit Blut und Kot überschreibt. Steckt hinter Christian Krachts Rücktritt von der Nominierung zum Schweizer Buchpreis tatsächlich Solidarität oder doch Kalkül, fragt der Tagesanzeiger. Der Filmdienst nimmt die beinahe queeren Schurken in Bond-Filmen unter die Lupe. Die SZ macht einen Ausflug in die Welt der Mystik in der neuen Isarphilharmonie. Schön, dass die Rieckhallen gerettet sind, aber wie geht es mit dem Hamburger Bahnhof weiter, fragt Monopol.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.09.2021 finden Sie hier

Bühne

Szene aus: "Im Reich des Todes". Bild: Thomas Rabsch

Bereits vor einem Jahr wurde Rainald Goetz' Stück "Im Reich des Todes" über 9/11 und Abu Ghraib in der Inszenierung von Katrin Beier am Deutschen Schauspielhaus uraufgeführt (Unsere Resümees), jetzt zeigte Stefan Bachmann seine Version am Schauspielhaus Düsseldorf - nach dem Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan genau zum richtigen Zeitpunkt, wie die Kritiker schreiben. Einen wahren "Hirnrave" erlebt Nachtkritiker Andreas Wilink, der staunt, wie Bachmann seine sieben weiblichen Darstellerinnen in "Rokoko-Roben" und SS-Leder-Lack-Kostümen durch Goetz' "minoisches Verweis-Labyrinth" führt: "Das Ensemble von sieben Darstellerinnen hebt die 'typische' Rollenzuteilung wirkmächtig auf. Dem auch von Pasolini her geläufigen Steigerungs-Aspekt von Sexualität als Gewalttakt und Verfügbar-Machen und wie sich dabei die Opfer-Täter-Relation nach Geschlecht sortiert, wird ein Strich durch die zu einfache Rechnung gemacht. Das ist ebenso 'skandalös' wie der Terror von Brutalität und Angst, der sich hier in frommer Litanei und religiöser Ekstase outet." In der SZ erlebt auch Alexander Menden eine "gezielte Überforderung des Zuschauers durch Sprache, Lärm und Unberechenbarkeit."

Szene aus "Divine Comedy" an der Volksbühne. Bild: Nicole Marianna Wytyczak

Masturbationsszenen, auf der Bühne verrichtete Notdurft, Blut und natürlich viel Nacktheit - Sandra Luzina (Tsp) versteht durchaus, weshalb Florentina Holzingers "Göttlicher Komödie" an der Volksbühne erst ab 18 Jahren empfohlen ist. Allein: Schock oder Verstörung wollen sich bei ihr nicht einstellen. Immerhin: "Florentina Holzingers Bühnenspektakel kreisen immer um den weiblichen Körper. Mit ihren feministischen Fantasien, überschreibt sie die überlieferten Imaginationen von Weiblichkeit. Auch diesmal lässt die Choreografin ihre Performerinnen wieder nackt auftreten. Athletische wie auch voluminöse Körper werden ausgestellt, Holzinger zeigt reale Körper, die sich in ganz realen Tätigkeiten verausgaben - und deswegen taugen sie nicht zur Projektionsfläche für schwüle Fantasien."

Besprochen werden Jossi Wielers und Sergio Morabitos Inszenierung von Hans Werner Henzes Oper "Das verratene Meer" an der Wiener Staatsoper (Standard), Adrian Nobles Inszenierung des "Otello" an der Wiener Staatsoper (Standard), Michael Quasts Inszenierung von Carl Malß' "Der alte Bürger-Capitain oder Die Entführung" an der Fliegenden Volksbühne Frankfurt (FR), Burkhard C. Kominskis Inszenierung von Andres Veiels und Jutta Dobersteins "Ökozid" am Schauspiel Stuttgart (nachtkritik), Antonio Latellas Inszenierung von Edmond Rostands "Cyrano de Bergerac" am Münchner Residenztheater (nachtkritik), Anne Lenks Inszenierung von Molières "Der eingebildete Kranke" am Staatstheater Hannover (nachtkritik), eine Rekonstruktion der Zürcher Uraufführung von Dürrenmatts "Die Physiker" am Theater Basel (NZZ), Dörte Lyssewskis Inszenierung von J.M.R. Lenz' "Der neue Mendoza" in Salzburg (FAZ) und Wajdi Mouawads Inszenierung von George Enescus Oper "Oedipe" an der Pariser Nationaloper (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Christian Krachts "Eurotrash" ist nicht nur für den Deutschen, sondern auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. Beziehungsweise war er das vor kurzem, denn der Schriftsteller ziert sich und ist zurückgetreten - zum einen aus gönnerhaften Gründen ("den anderen nominierten Schriftstellerinnen eine bessere Chance geben"), zum anderen, weil ihn eine Tagesanzeiger-Recherche von Linus Schöpfer im vergangenen Jahr angeblich sehr ans Herz ging, die sich fragte, warum ein aus reichem Hause stammender Autor sich das Verfassen seines Romans öffentlich-rechtlich von Pro Helvetia finanzieren lässt. Schöpfer selbst sieht Krachts Argument skeptisch, zumal eine Anmeldung zum Schweizer Buchpreis ohne Einverständnis des Autors gar nicht möglich ist. "Als er dann tatsächlich nominiert wurde - die Jury lobte seine 'listig arrangierte Autofiktion' -, schickte Kracht den Rückzugsbrief. Ist es tatsächlich Solidarität? Im Brief verwendet Kracht, der sich stilistisch und habituell ansonsten gern aufs Konservative kapriziert, jedenfalls typische Zeichen solidarischen Schreibens - etwa das generische Femininum. Oder ist es doch Kalkül? Um mit einem allzu späten Rückzug Aufregung und Verwirrung zu stiften? Dem erratischen Ruf gerecht zu werden? Kracht selber will nichts weiter sagen", er "bleibt die Sphinx der deutschen Gegenwartsliteratur."

Weitere Artikel: In der taz spricht der Schriftsteller Alexander Kühne unter anderem darüber, wie es war in den DDR-80ern einen Jugendclub zu betreiben. Matthias Hannemann berichtet in der FAZ vom Internationalen Literaturfestival in Reykjavik.

Besprochen werden Felicitas Hoppes "Die Nibelungen" (taz), eine Ausstellung in Basel über die Comiczeichnerin Posy Simmonds (online nachgereicht von der FAZ), Bae Suahs "Weiße Nacht" (NZZ), Daniel Schreibers Essay "Allein" (taz), Oliver Pötzschs Krimi "Das Buch des Totengräbers" (taz), Konrad Hummlers "Aus der Frohburg. Aufzeichnungen eines Unangepassten" (NZZ), Andreas Izquierdos "Revolution der Träume" (FR), der dritte Band von Bob Woodwards Buchreihe über Donald Trump (ZeitOnline) und Colm Tóibíns Thomas-Mann-Roman "Der Zauberer" (SZ).
Archiv: Literatur

Film

Rami Malek als Gegenspieler im neuen Bond-Film "Keine Zeit zu sterben"

"Rettet Ironie die Würde, bevor einen alle für einen sexistischen Massenmörder mit Alkoholproblemen halten", fragt sich Patrick Holzapfel in einem Filmdienst-Essay zu den Männlichkeitsbildern in den James-Bond-Filmen, deren neueste Episode kommenden Donnerstag nach einer schier endlosen Verschiebungsoper nun tatsächlich in die Kinos kommen soll. Spannender als der in seinen jüngsten Konkretionen eh ins Neurotische abgeglittene Titelheld sind für Holzapfel aber die Schurken, die fast einen queeren Gegenpol aufbauen: "Der mit sich selbst hadernden Männlichkeit Bonds wird meist eine destruktive Anarcho-Parade entgegengestellt, die in einer Welt, in der die alten Ordnungen und Weltbilder zunehmend ins Wanken geraten, fast produktiver wirken als die gute alte, sich selbst auf die Schulter klopfende Moralität von Queen und Konsorten. Susan Sontag unterschied einmal zwischen Schriftstellern, die man heiraten, und Schriftstellern, mit denen man eine Affäre beginnen würde. Würde sie eine solche Unterscheidung bei den James-Bond-Männern anlegen, käme in Fragen der Heirat, aber auch nur, wenn man versteht, mit dem Nerdtum umzugehen, einzig Ben Whishaws Q in Frage. ... Alle anderen Männer kann man kaum ernsthaft länger lieben, selbst wenn die sehnsuchtsvollen Stimmen der Bond-Titelsongs anderes erzählen."

Weitere Artikel: Für Cargo schreibt Kathrin Peters einen Nachruf auf die Filmemacherin Tatjana Turanskyj (mehr zu deren Tod hier). Angela Merkel (Bundeskanzlerin) und Daniel Craig (James-Bond-Darsteller) waren zeitgleich und für dieselbe Dauer Inhaber ihres Amtes, stellt Dirk Peitz auf ZeitOnline fest. David Steinitz gratuliert in der SZ dem Schauspieler Mark Hamill, der als Luke Skywalker berühmt und als Stimme des Batman-Schurken Joker gefeiert wurde, zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Philipp Stölzls Verfilmung der "Schachnovelle" (Presse, unsere Kritik hier), Amber Sealeys "Ted Bundy: No Man of God" (SZ) die Apple-Serie "Foundation" nach dem gleichnamigen Science-Fiction-Epos von Isaac Asimov (Welt),
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Kunst

Pablo Picasso: Grande Baigneuse au livre, Paris. Musée national Picasso-Paris, Photo © RMN- Grand Palais, Mathieu Rabeau © Succession Picasso 2021. Auguste Rodin: Le Penseur, 1880-82, © Musée Rodin, ph. Hervé Lewandowski

Picasso und Rodin haben sich mutmaßlich nie getroffen, aber die Parallelen im Schaffen beider Künstler sind verblüffend, erkennt eine überwältigte Bettina Wohlfarth (FAZ)  in der Doppelausstellung "Picasso - Rodin", die derzeit im Picasso-Museum und im Rodin-Museum in Paris gezeigt wird: "Auguste Rodin wie Pablo Picasso suchen unablässig danach, die Energie und Essenz des physischen Seins zwischen Lust und Leid, Eros und Thanatos, Liebesekstase und Schmerzensschrei auszudrücken. Im Rodin-Museum wird das 'Höllentor' des Bildhauers, das auf Dantes 'Göttliche Komödie' Bezug nimmt, dem Anti-Kriegs-Schrei von Picassos 'Guernica' (als Tapisserie) gegenübergestellt. Es ist überraschend, wie gerade der Dialog dieser beiden beeindruckenden Werke, deren Kontext sehr unterschiedlich bleibt, ihrer Aussage Universalität und noch größere Intensität verleiht. Beide Künstler haben auf ihre Weise das Archaisch-Tragische des unter Terror und Grausamkeit leidenden Körpers in Darstellung gefasst und absolute Verzweiflung zum Ausdruck gebracht."

Dass abstrakte Kunst keineswegs unpolitisch sein muss, erfährt Stan Mir (Hyperallergic) in der Ausstellung "Fault Lines" im Philadelphia Museum of Art, die sich zeitgenössischer Abstraktion von Künstlern aus Südasien widmet. Etwa in den Holzschnitten mit dem Titel "These Cities Blotted into Wilderness (Adrienne Rich nach Ghalib)" der Inderin Zarina: "Das Nebeneinanderstellen von 'Bagdad' und 'Kabul' sowie ihre Darstellung von 'New York' als überwiegend schwarzer Hintergrund mit zwei unvollkommenen und schmalen vertikalen weißen Linien, die das World Trade Center repräsentieren, erhielten 2021 eine neue Schwere. Zarinas Arbeiten machen dem Betrachter diese geografischen Orte als Orte mit einem eigenen Raumgefühl bewusst, die manchmal durch die Beschaffenheit des Geländes definiert sind, oft aber auch von Menschenhand geformt wurden. Ohne Bilder von Schlachtszenen oder leidenden Menschen liegt es in der Verantwortung des Betrachters, zu verstehen, warum die Künstlerin diese Städte als Motive gewählt hat. Der Titel der Serie suggeriert, dass die Konflikte in diesen Städten eine Form der Auslöschung darstellen."

Sebastian Frenzel (Monopol) möchte die Freude über die Rettung der Rieckhallen (Unser Resümee) ja nicht trüben, aber ein paar Fragen stellen sich dann doch noch: So "muss um das Hauptgebäude, den Hamburger Bahnhof selbst, weiter gebangt werden. Monika Grütters verhandelt diesbezüglich weiter mit der Immobilienfirma, aus dem BKM hieß es gestern, es würden noch 'verschiedene Optionen geprüft'. Spekuliert wird zudem bereits, ob auch die Flick Collection zurückkehren könnte - Friedrich Christian Flick hatte seine bedeutende Sammlung abgezogen, als der geplante Abriss der Rieckhallen bekannt wurde. Und wie bitte hat dann eigentlich die Ausschreibung für die Direktion des Hamburger Bahnhofs ausgesehen: 'Suchen Leitung (m/w/d) für den Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart, können aber derzeit nicht sagen, welche Gebäude einmal bespielt werden und welche Kunstwerke die Sammlung umfasst'?"

Für die taz-Reihe zu deutschen Kunstvereinen besucht Bettina Maria Brosowsky heute Hannovers Kestner-Gesellschaft. Besprochen werden das Fotobuch "Lehe im Wandel" der Fotografin Miriam Klingl (taz), die Ausstellung "… oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende" in der nGbK in Berlin (taz) und die Art Basel (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

In zwei Wochen eröffnet in München nach nur drei Jahren Bauzeit die Isarphilharmonie - eine Zwischenlösung für die Münchner Philharmoniker für die Zeit der großen Sanierung des Gasteigs. Dass für das Interimsprojekt der renommierte Akustiker Yasuhisa Toyota gewonnen werden konnte, ist zwar schon "ein bisschen dekadent", meint Rita Argauer in der SZ. Aber geholfen hat es doch: "Wenn man den neuen Saal erstmals betritt, überrascht die Wärme. Sowohl akustisch als auch emotional." Es zeigt sich "ein dunkler, gedämpft klingender Holzsaal. Eine Mischung aus alter Schuhkarton-Form und moderner Weinberg-Architektur. Das Podium ist rund, die Musiker sitzen wie um ein Lagerfeuer herum, hinter dem Podium gibt es Ränge", doch "die Grundform ist ein Rechteck, so wie bei den Sälen aus dem 19. Jahrhundert. Und auch die Dunkelheit ist besonders. Die Wände sind mit schwarzem Holz verkleidet. Kleine Leuchten erhellen die Decke wie ein künstliches Firmament", eine Dunkelheit, die "auch zu Gergievs Dirigierstil passt, der die Musik gerade im Konzert bisweilen impulsiv überschwappen lässt. Ein bisschen Mystik, ein bisschen Außerweltlichkeit, ein bisschen Überwältigung."

Weitere Artikel: Im Freitag kann Axel Brüggemann über die Karriere der Dirigentin Joana Mallwitz nur staunen: Mit gerade einmal 35 Jahren hat sie bereits hochrangige Posten in Erfurt und Nürnberg hinter sich und wechselt als nächstes zum Konzerthausorchester Berlin. Sag, wie hast du's mit dem Fortepedal, erkundigt sich Arno Lücker für VAN bei den Pianisten Schaghajegh Nosrati, Herbert Schuch und Martin Helmchen. Für VAN porträtiert Christina Rietz den Geiger Clayton Haslop, der vom vierfingrigen Griffsystem krankheitsbedingt auf ein zweifingriges umsteigen musste. Daniel Dylan Wray wirft für The Quietus einen Blick auf Nick Caves lange Geschichte der künstlerischen Zusammenarbeit. David Stubbs schreibt für The Quietus einen Nachruf auf Richard H. Kirk von Cabaret Voltaire. Und in der ersten Single ihres kommenden Albums lassen Tocotronic derweil Ödön von Horváth auf Sonic Youth treffen:



Besprochen werden der Saisonauftakt des BR-Symphonieorchesters (SZ), das neue Ärzte-Album "Dunkel" (Tagesspiegel, Standard, mehr dazu hier), das Notwist-Konzert im Rahmen des "Bildet Nischen"-Festivals in Berlin (Tagesspiegel), die Wiederveröffentlichung von Trashcan Sinatras' 93er-Album "I've Seen Everything" (Pitchfork) und eine Frankfurter Aufführung von Fritz Langs "Metropolis" mit der Musik von Georg Huppertz (FR).
Archiv: Musik