Sasha Marianna Salzmann wartet vor einem Café in Berlin. Der Tag ist kühler, als er aussieht. Sie trägt ein Jackett. Am Nachbartisch unterhalten sich zwei Männer auf Türkisch. Salzmann spricht leise, aber so klar, dass trotzdem jedes Wort zu verstehen ist. "Ich bin ein sehr wütender Mensch, glaube ich", sagt sie, ausgesprochen sanft. "Dass ich sanft wirke, sagen viele. Ich finde das gut, ich mag es nicht, die Verzweiflung an der Welt an anderen auszulassen."

Salzmann ist Theaterautorin, Essayistin und Dramaturgin. Bevor sie sich dem Romanschreiben widmete, leitete sie die Studiobühne am Maxim Gorki Theater in Berlin, an dem sie auch Hausautorin ist. Das Gorki ist unter der Intendanz von Shermin Langhoff zum Hotspot einer Bewegung geworden: postmigrantisch, postkolonial, intersektional, genderfeministisch, critically white. Sasha Salzmann wurde aus diesem Kreis zum Star der jüngeren deutschsprachigen Literatur. Ihr Debüt, Außer sich, wurde in 16 Sprachen übersetzt. Ihr neuer Roman, Im Menschen muss alles herrlich sein, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

Zur Welt kam sie 1985 in Wolgograd. "Ich hab noch die Medaille 'Geboren in der Stadt der Helden' bekommen. Hab ich dummerweise verschenkt." Sie wuchs in Moskau auf, aber kennt die Stadt nicht, in der sie groß geworden ist. In der Gegend, in der ihre Familie lebte, ging man als Kind nicht allein auf den Spielplatz. Deshalb erinnert sie sich nur an die Schule und ihre Wohnung. Wenn sie später, als Teenager, zu Besuch war, versuchte sie zu sehen, was Touristinnen sehen, wenn sie durch die Stadt gehen. Es gelang ihr nicht. 1995 emigrierte ihre Familie nach Deutschland. "Ich kam hierher", sagt sie, "ich hab die Schule abgebrochen. Ich hab alles abgebrochen. Ich hab semiprofessionell geboxt." Heißt das, sie könnte einen so richtig verdreschen? "Nein", entgegnet sie mit Nachdruck. "Und es ist lange her."

Mit dem Boxen aufgehört hat sie unter anderem wegen ihrer Gesundheit: "Ich hab mich taub geboxt. Konnte das nicht kontrollieren, hatte viel mehr Wut als Kontrolle in mir." Zudem wollte ihr Trainer nicht, dass sie studiert. Sie aber holte das Abitur nach, schaffte es beim dritten Versuch. Wollte dann an die Universität, weil sie Lesen und Lernen so toll fand. Das glaubte sie mit dem Kampfsport nicht vereinen zu können – aber vielleicht gibt es ein Paralleluniversum, in dem sie statt Autorin Boxchampion ist. "Ich weiß nicht, ob ich 'schwer erziehbar' war, ob das das Wort dafür ist, aber ich war sehr schwer zu handhaben. Mir ging alles viel zu langsam, ich fand alle um mich herum doof. Aber dann hab ich auch angefangen, Theaterluft zu schnuppern."

Über einen Anruf der Dramaturgin Barbara Kantel, bei der sie als Schülerin ein Praktikum gemacht hatte, kam sie zu einer Hospitanz ans Schauspielhaus Hannover. Und beim Theater blieb sie ihr halbes Leben. Genau das halbe, wie sie betont, von 17 bis 34. "Ich hab Länder gewechselt, ich hab diverse Wohnungen gewechselt. Aber immer, wenn Leute mich gefragt haben, wo ich herkomme, hab ich gesagt: Aus dem Theater." 2013 bis 2015 war sie künstlerische Leiterin der Studiobühne des Gorki Theaters. "Wir haben dort gewohnt. Das war eine Lebenseinstellung. Ich war so glücklich. Und als ich nicht mehr glücklich war, bin ich gegangen."

"Und als ich nicht mehr glücklich war, bin ich gegangen." Ein simpler Satz, und oft ein unendlich schwerer. Bereits ihr Debütroman war der Versuch, die Offenheit der Migrationserfahrung in der erzählerischen Form zu reflektieren. Außer sich wurde vielfach ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Der Titel ihres neuen Romans, Im Menschen muss alles herrlich sein, erinnert ein wenig an Ocean Vuongs Roman Auf Erden sind wir kurz grandios, ist aber ein leicht abgewandeltes Tschechow-Zitat.

Wieder geht es um Migration, diesmal um vier Frauen aus zwei Generationen. Der erste Teil des Romans erzählt die Kindheit und Jugend von Lena, die in den Siebzigerjahren in der Sowjetunion aufwächst. Wie die gleichaltrige Tatjana siedelt sie schließlich nach Deutschland über. Später verschiebt sich die Perspektive zur jüngeren Generation, zu Edi und Nina, den Töchtern der beiden Frauen. "Der Klang eines Satzes ist wichtiger als der Inhalt eines Satzes", sagt Salzmann im Gespräch, und tatsächlich dominieren Sound und Rhythmus den Leseeindruck, weniger als Groove denn als sanftes Wiegen, das aber nichts Einschläferndes an sich hat, sondern mimetisch nachzuvollziehen scheint, wie wir Erlebnisse und Erinnerungen strukturieren – und rekonstruieren, wenn sie uns durch harte Brüche fremd geworden sind. Salzmann erzählt zugewandt, ihren Protagonistinnen wie dem Publikum gegenüber. Als würde sie aus der Einsamkeit, dem Idiosynkratischen des Schreibens ein großes soziales Vertrauen schöpfen, das sogar über ohnmächtige Wutanfälle angesichts des ungerechten Todes trägt ("MissgeburtenunfähigeArschlöcherVerbrecherdieFalscheistverreckt") und den Beginn des Lebens mit wilden Raubtiervergleichen bändigt: "Die Nachricht von der Schwangerschaft fuhr ihr wie scharfe Krallen in die Kniekehlen und riss sie von den Füßen." Für Verzweiflung lassen Worte dieser Größe wenig Raum. Salzmann generiert einen enormen Beschreibungsüberschuss, vom Geräusch der Schritte des Vaters auf dem Schnee bis zur Beschaffenheit des Eingangstors zum Ferienlager. Fast wähnt man sich in einer Premiumproduktion des Ausstattungskinos: eine Menge Requisiten, aber handverlesene, weshalb es nie nach Kostümschinken riecht.