Wenn eine Reisende in einer Sommernacht – die Koreanerin Bae Suah verwandelt die Metropole Seoul in ein funkelndes sprachmusikalisches Rätsel

Bae Suah, die 1965 in Seoul geboren wurde, gehört zu den eigenwilligsten Autorinnen Südkoreas. Dem literarischen Mainstream, sprich dem realistischen Erzählen, verweigert sie sich konsequent.

Hoo Nam Seelmann
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Die Koreanerin Bae Suah war 2018 Zürcher Writer in Residence.

Die Koreanerin Bae Suah war 2018 Zürcher Writer in Residence.

Goran Basic / NZZ

Die feuchte Hitze der Sommernächte in Seoul, die den Schlaf dünn und unruhig macht und Träume wild und ausufernd, bildet den atmosphärischen Hintergrund des neuen Romans von Bae Suah. «Weisse Nacht» ist das erste in deutscher Übersetzung vorliegende Buch der südkoreanischen Autorin. Erzählt wird, was in einer Nacht und an einem Tag im Leben der Protagonistin Ayami geschieht, mit Rückblenden und Seitensträngen, die kreisförmig ineinander münden.

Beim Lesen spürt man die Macht der Elemente, die auf den menschlichen Körper und Geist einwirken: «Die Nacht brach herein. Doch die Hitze wollte nicht weichen. In der Dunkelheit erschlafften die Fasern, die Körperstrukturen und Fleisch zusammenhielten, und flatterten, wirbelten am Rande des Bewusstseins. (. . .) Mit dem Zerfall der Zellmembranen des Schlafes vermengten sich Träume mit komatösen Zuständen.» In solchen Nächten verschieben sich Wahrnehmungen, Denken verlässt seine Bahnen, und Erinnern wird undeutlich. Die flirrende Hitze des Monsunsommers gebiert ein eigenes Bild von der Welt.

Seltsam schwebend

Bae Suah, die 1965 in Seoul geboren wurde, gehört zu den profiliertesten Autorinnen Südkoreas und zeichnet sich durch einen eigenwilligen narrativen Stil aus. Bae hat sich schon früh vom literarischen Mainstream Koreas, nämlich dem realistischen Erzählen, gelöst und einen eigenen Weg beschritten. Ihr Schreiben ist assoziativ und collagenhaft. Die Realität, die sie beschreibt, ist stets voller Brüche und abrupter Übergänge. Identitäten werden infrage gestellt, denn man hat ohnehin mit Images und Bildern zu tun, die wir uns von der Welt machen. Bae Suah setzt wiederkehrende Motive und bewusste Wiederholungen ein, um eine eigene literarische Welt zu schaffen, die seltsam schwebend ist. Verschiedene Ebenen vermischen sich: Was ist real und was Imagination, Traum oder Erinnerung? Ohnehin hat Bae ein wesentlich musikalisches Verständnis von Literatur. Jeder ihrer Texte besitzt eine besondere Tonalität. Sein Rhythmus kommt erst im Vortrag richtig zum Vorschein.

Ungewöhnlich ist Baes Werdegang, da sie an der Universität Chemie studierte und nie Ambitionen fürs Schreiben hegte. Zufällig sei sie, wie sie in verschiedenen Interviews sagte, zum Schreiben gekommen. 1993 veröffentlichte sie ihre erste kurze Erzählung. Inzwischen sind neben zahlreichen Erzählungen auch Romane und Essays erschienen, und Bae Suah erhielt einige wichtige Literaturpreise Südkoreas. Ihr Blick auf die Literatur wurde durch ihre Übersetzungstätigkeit geschärft. Sie hat zahlreiche Werke von ausländischen Autoren ins Koreanische übersetzt, vor allem von deutschsprachigen Autoren wie W. G. Sebald, Robert Walser, Hermann Hesse, Bertolt Brecht und Franz Kafka.

Im Roman «Weisse Nacht» arbeitet Ayami, eine Frau von 27 Jahren, in einem Hörtheater in Seoul, in dem für Sehbehinderte und Blinde Geschichten als Hörspiele vorgeführt werden. Im Theater findet an jenem heissen Sommerabend die letzte Vorstellung statt, da es für immer geschlossen werden soll. In dieser Nacht begegnet Ayami verschiedenen Menschen: Theaterbesuchern, einem älteren Paar, einem sich seltsam gebärdenden Mann, Menschen in einem weissen Bus. Die Beziehungen zwischen den Figuren wirken lose, unverbindlich und beinahe zufällig. Nähe entsteht daraus selten. Ayami geht mit dem Theaterdirektor in ein Restaurant, das «Blackout» heisst und im völligen Dunkel Essen serviert. Man ertastet sich die Welt.

Grosse visuelle Kraft

Die beiden begeben sich auf die Suche nach der gemeinsamen Freundin Yoni, die Ayami Deutschstunden gab. Am nächsten Tag fährt sie zum Flughafen, um den deutschen Krimiautor Wolfi abzuholen. Da ist auch ein Mann mit dem Namen Buha, der gern ein Dichter geworden wäre. Er erweist sich als jener seltsame Mann vor dem Theater. Die Figuren im Roman werden nicht durch einen durchgehenden Erzählstrang zusammengehalten, sondern sind mehr durch Orte, Dinge, Farben und Adjektive identifizierbar. Baes Geschichte hat aber eine grosse visuelle Kraft, man meint, ein surreales Bild zu betrachten, in dem Figuren auf rätselhafte Weise zusammengefügt sind.

Als ein zentrales Motiv taucht der berühmte Roman des persischen Autors Sadeq Hedayat, «Die blinde Eule» (1936), an vielen Schlüsselstellen auf. Darin erzählt der Protagonist seinem eigenen Schatten, vom Opium berauscht, von Einsamkeit, Abgründen des Lebens und Sehnsucht nach Liebe und Tod. Der Schatten hat die Form einer Eule. Traum, Erinnerungen, Fiktionen und Realität vermischen sich. Der Roman gilt als ein Meisterwerk des Surrealismus. Es ist eine beklemmende Geschichte, die einen aber durch eine eigentümlich rauschhafte Sprache sofort in den Bann zieht. Ayami liest mit Yoni diesen Roman auf Deutsch. Er wird auch am letzten Tag im Hörtheater aufgeführt.

Als Bae Suah 2013 «Weisse Nacht» in Korea veröffentlicht, hat sie auch den persischen Roman ins Koreanische übersetzt. Sie muss zu dessen Autor eine Seelenverwandtschaft gespürt haben. Man findet viele stilistische Gemeinsamkeiten und direkte Anspielungen. Sie fand hier eine literarische Andockstelle. Dass Bae auch Kafka und Pessoa übertragen hat, rundet das Bild ab. Gemeinsam ist bei all den Autoren, dass der Mensch sich selber stets das grösste Rätsel bleibt.

Bae Suah: Weisse Nacht. Roman. Aus dem Koreanischen von Sebastian Bring. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2021. 159 S., Fr. 34.90. – Am Montag, 27. September, um 19 Uhr 30, stellt Bae Suah im Zürcher Literaturhaus ihr neues Buch vor. Lesung: Lea Körte.

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