Konturlose Räume und sich auflösende Schatten – Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

Von Lea Katharina Kasper

Vier Teile, vier Namen: Adina, Nina, Sala und „der Mohikaner“ oder genauer „der letzte Mohikaner“. Der Aufbau von Antje Rávik Strubels neuestem Roman ist klar, doch schon auf den ersten Seiten zeigt sich die diffuse Komplexität, die die Leserin erwartet und noch zur Herausforderung werden wird. Ein Shortlist-Titel, der nicht nur von seiner Aktualität, sondern vielmehr von der Vielschichtigkeit der Figuren lebt.

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In Blaue Frau treffen wir auf Adina, die sich in einer kleinen Wohnung in Finnland aufhält und sich erinnert. „Sie hat das Recht, in der Erinnerung zu sein. Auch wenn sie keine Methode hat, dorthin zurückzukehren. Alles geschieht lose und lückenhaft.“ Das Beschriebene gleicht einer Flucht; Adina sucht nach einem möglichen Umgang mit dem Erlebtem. Es umfasst die Beschreibung von Angstzuständen, Panikattacken, Hilferufen und dem Versuch, zu vergessen. Schlussendlich geht es darum, Gerechtigkeit zu erlangen.

Die Autorin schafft schon zu Beginn eine beklemmende Atmosphäre, in der sie die Innenwelt ihrer Figuren in ihre wirkliche Lebenswelt projiziert und ein stimmungsvolles und überzeugendes Bild erzeugt, das den Roman über die schwierigen und lückenhaften Passagen zu tragen vermag. Der Roman funktioniert wie die Erinnerung selbst – er ist unvollständig und lässt einen dennoch nicht los.

Früh erfährt man, dass Adina auf der Flucht ist und mehrere Identitäten besaß. Die einzige, die sich Adina selbst gab, ist diejenige in ihrem jugendlichen Zufluchtsort „Rio“. Ein Chatroom, in dem sie sich den selbstgewählten Namen „der letzte Mohikaner“ gibt. Eine Verkettung von Personen und Ereignissen bringt Adina von Berlin in die Uckermark. Ein Praktikum in einem im Entstehen begriffenen Kulturzentrum soll ihr die finanziellen Mittel für einen Deutschkurs liefern. Auch dort wird Adina nicht als das gesehen, was sie ist, sondern als die aus Russland stammende Nina, die die Vorlieben eines sogenannten „Multiplikators“ befriedigen soll, der für den Besitzer des Kulturzentrums Geldmittel beschaffen muss. Ihre Flucht vor diesem Ort endet in Finnland. Ihr vermeintlicher Retter ist Leonides, ein estnischer EU-Abgeordneter und Hochschullehrer, der ihr eine neue Identität und den Namen Sala gibt. Adina widerspricht diesen ihr zugeordneten Identitäten nicht (oder zumindest nicht öffentlich). Die Beziehung zu Leonides ist von Ablenkung und Flashbacks gekennzeichnet, worin sich der Roman schließlich mit der Erzählgegenwart verbindet.

Die Aktuellen Bezüge sind offensichtlich. Es geht in dem Roman zuallererst um Machtverhältnisse. Um Ost-Westkonflikte, politische Machenschaften, das Geschlechterverhältnis, die LGBTQ-Community, Gewalt und Ungleichheiten. Ihrem Zusammenhang ist der Roman auf der Spur; in der Protagonistin finden sie ihren gemeinsamen Nenner. Vertreten werden diese Themen durch die unterschiedlichsten Figuren, die Passagen in Adinas Leben darstellen. Schicksalshafte Passagen und Ereignisse, die in ihrer Verbindung und Verkettung dazu führen, dass sich Adina in Finnland nicht immer freiwillig und vor allem nicht linear erinnert.

Die eigenwillige Struktur und Figurenvielfalt des Romans sind seine spannendsten Elemente. Indem die Autorin die unterschiedlichen Themenkomplexe mit den Erinnerungen verbindet, die Adina in ihrem Kopf von ihren Erlebnissen und den dominanten Figuren in ihrem Leben hervorruft, wirken die Themen nicht einfach abgeschlossen, sondern gewinnen in ihrer komplexen Vielschichtigkeit an Dreidimensionalität. Dennoch sind es zu vielen Themen und Figuren für ein einziges und vor allem noch junges Leben, das durch die Lückenhaftigkeit zusätzlich zur Belastung wird. Die namensgebende „Blaue Frau“ ist das Paradebeispiel dieser Lückenhaftigkeit. Sie ist eine Art übergeordnete, wiederkehrende Erzählstruktur, eine Metaebene, die mehr Fragezeichen als jede andere Figur im Roman hinterlässt. Wer sie ist, ob sie überhaupt existiert, bleibt offen und – wie so vieles – den sich weiterspinnenden Gedanken der Leserin überlassen.

Der Schluss des Romans wirkt überhastet. Neue Figuren treten auf, werden jedoch nicht mit derselben Sorgfalt wie zuvor dem inneren Auge vorgeführt, sodass sich das Buch am Ende etwas überschlägt; auch weil die vorige, an ausgesuchten Stellen präzise Lückenhaftigkeit nun zu vieles offen lässt. Die Ereignisse wirken gesucht und folgen teilweise Klischees, die der Roman nicht nötig hätte. Wenn Adina an einem schicksalshaften Abend durch Leonides von ihrer Vergangenheit eingeholt wird und in demselben Moment die Person trifft, welcher sie sich später anvertrauen wird, wirken die Passagen wie aus einem Hollywood-Film und nehmen dem Roman dadurch die vielschichtige Glaubwürdigkeit der vorigen Seiten.

Der Roman bewegt sich „im konturlosen Raum sich auflösender Schatten“ – wer den Roman liest, muss damit klarkommen, dass vieles angesprochen, aber nichts ausgesprochen wird. Die Vielschichtigkeit und die Konturlosigkeit die diesen Roman umgeben, sind anspruchsvoll. Die Themen ebenso. Deshalb erstaunt es nicht, dass Antje Rávik Strubel acht Jahre am Roman schrieb. Der sorgfältige Aufbau des Romans und die ihn füllenden Figuren sind beeindruckend. Deshalb hätte man sich anstatt des beschleunigten, diffusen Endes mehr von den inneren Zuständen, der ausgewählten Präzision und Unschärfe des Beginnes gewünscht.

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Antje Rávik Strubel: Blaue Frau
S. Fischer 2021
432 Seiten / 24 Euro

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Foto: TheDigitalArtist / pixabay.com

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